Dr. William E. Thomas MD

Karl May und Trauer


 

Das Verzeichnis des literarischen Werkes von Karl May ist wirklich beeindruckend.[1] Jedes Jahr von 1874 bis zu seinem Tod 1912 hatte Karl May viele tausend Worte geschrieben, in logischen Geschichten, die eifrig sowohl von einfachen als auch gebildeten Leuten gelesen worden sind. Es war ein einheitliches und beständiges kreatives Schreiben einer begabten und energetischen Person gewesen.

Es gab eine kurze Periode während seines intensiven Schreibens im Jahre 1885, als Karl May sein ständiges literarisches Werk unterbrach. Was geschah zu dieser Zeit im Leben von Karl May?

Am 15. April 1885 starb Mays Mutter. Der Tod der Mutter ist ein schwerwiegendes und traumatisches Ereignis im Leben eines jeden Menschen. Die Reaktion von Karl May auf diese Qual in seinem Privatleben ist eine nähere Aufmerksamkeit wert, um den Zustand seines Geistes zu verstehen.

Personen, die einen Trauerfall erleben, zeigen typische Anzeichen, z. B. Schlaf- und Appetitstörungen, äußerste Traurigkeit etc. – Trauer ist jedoch keine geistige Störung. Normale Trauer ist ein spezieller Fall von Anpassungsstörung,[2] das ist ein kurzer Zeitraum von bis zu drei Monate der Verzweiflung und emotionaler Störung, die dem Auftreten eines wichtigen Stressfaktors oder einer Lebensänderung folgt.

Trauer bezieht sich auf das Gefühl der Traurigkeit und folgt dem Verlust oder Tod einer geliebten Person.

Die physischen und psychologischen Anzeichen umfassen Weinen, Seufzen, Schwäche und Appetitsverlust, Übelkeit, Erregung, Schlaflosigkeit, Konzentrationsschwäche und den Verlust des Interesses an den normalen Aktivitäten.

Diese Periode kann von Wochen bis zu Monaten dauern. Eine breite Palette von emotionalen und physischen Problemen kann mit Trauer verbunden sein, einschließlich Kummer, Sorge und die dazugehörigen physischen Anzeichen wie Schlaflosigkeit und Anorexie [Magersucht]. Es ist auch wahrscheinlicher, dass die Betroffenen Alkoholmissbrauch betreiben, und sie können zu dieser Zeit anfällig für körperliche Erkrankungen sein. Trotz des hohen Grades des Stresses, den die Personen erlitten haben, die vor kurzem jemanden durch den Tod verloren, kommt die Mehrheit der Betroffenen mit dem Verlust zurecht, und nur eine Minderheit entwickelt eine geistige Störung wie eine tiefere depressive Episode.

Was wissen wir über die Reaktion Karl Mays auf den Tod seiner Mutter? Die unmittelbare Reaktion ist normalerweise Taubheit und Unglauben; eine Unfähigkeit, zu begreifen, daß der Verlust geschehen ist, und ein ›Schockzustand‹.

Karl Mays zweite Ehefrau Klara beschrieb 1932, was in dieser Nacht im April 1885 geschah: »Als seine Mutter in seinen Armen starb, hielt er sie vom Abend bis zum Morgen als Leiche in seinen Armen. Handelt so ein uns normal erscheinender Mensch? Das Grab der Mutter wurde doppelt tief gemacht. Er wollte bei ihr begraben werden.«[3][4]

Zu dieser Zeit schrieb Karl May den Roman ›Die Liebe des Ulanen‹ für die Zeitschrift ›Deutscher Wanderer‹, der als Lieferungen in Fortsetzungen herausgegeben wurde. Der Herausgeber der Zeitschrift musste in drei Ausgaben (Nr. 88, 89, 90 ) einen anderen von Karl May gelieferten Text drucken, der nichts mit der Originalgeschichte zu tun hatte. Karl May hatte nicht die Zeit oder konnte die üblichen wöchentlichen Fortsetzungen von ›Die Liebe des Ulanen‹ nicht schreiben. Er belieferte deshalb den Herausgeber mit einem anderen Text, den er vor dem Tod seiner Mutter schrieb: ›Ulane und Zouave‹.[5] Die folgenden Ausgaben des ›Deutschen Wanderers‹ führen die eigentlichen Geschichte ›Die Liebe des Ulanen‹ ab dem 13. Juni 1885 fort.[6]

Der Vorgeschichte einer depressiven Erkrankung steigert das Risiko, eine Depression während der Trauerphase zu entwickeln. Das Selbstmordrisiko muß auch abgeschätzt werden. Wenn schwerwiegende Anzeichen bestehen bleiben, ist eine fachmännische psychiatrische Behandlung angezeigt.

Aus den Beweismitteln, die wir haben, können wir schließen, dass Karl May durch die unmittelbare Reaktionsphase der Trauer ging und zu seiner normalen Beschäftigung bis Juli 1885 zurückkehrte.[7] Karl May litt im Jahr 1885 zwischen dem 15. April und Mitte Juni an Trauer; es war Trauerperiode.[8] Eine depressive Phase kann nicht bewiesen werden. Im Gegensatz, was Klara May 47 Jahre nach dem Ereignis mitteilte, war es eine normale Reaktion einer trauernden Person.

Karl Mays Großmutter väterlicherseits, Johanna Christina Vogel-Kretzschmar, starb am 19. September 1865.[9] Als Karl May am 2. November 1868 nach der Gefängnisstrafe in Zwickau nach Hause zurückkehrte, wurde ihm vom Tod seiner Großmutter berichtet. Mit seinen eigenen Worten: »Da sank ich auf den Stuhl und legte Kopf und Arme auf den Tisch. Sie lebte nicht mehr! … Es dauerte lange Zeit, ehe ich den Kopf wieder hob, um die Eltern nun zu grüßen. Sie erschraken. Sie sagten mir später, mein Gesicht habe schlimmer ausgesehen als dasjenige einer Leiche. Die Geschwister kamen hinzu. Sie freuten sich des Wiedersehens, aber sie schauten mich so sonderbar an, so scheu. Das war nichts weiter als der Reflex meines eigenen Gesichts. Ich gab mir zwar die größte Mühe, aber ich konnte den Schlag, der mich soeben getroffen hatte, doch nicht ganz verbergen.«[10]

Die Reaktion auf dieses Trauma führte nicht zu einer tieferen depressiven Episode, sondern zu einer Verschlimmerung der Dissoziativen Identitätsstörung.[11]

Scheidung ist ein anderes bedeutsames Ereignis im Leben eines Menschen, das sehr traumatisch ist. Das gerichtliche Scheidungsurteil zwischen Karl May und Emma May / Pollmer erging im Januar 1903. Jedoch schon Jahre davor lebte das Paar nicht in Harmonie. Karl May war beunruhigt gewesen, Emma könnte ihn vergiften wollen und achtete darauf, was er aß. Emma vernachlässigte es andererseits, seine Mahlzeiten zu bereiten. Durch seine zweite Frau Klara ist eine vertrauliche Beschreibung der ehelichen Reibereien zwischen Karl und Emma aus jenen Jahren überliefert. Karl May verlor Gewicht, jedoch gab es kein Zeichen von klinischer tiefer Depression. Klara May schrieb im August 1902: »Karl arbeitet. Er sagt, da sei ihm am wohlsten. Wenn er nur nicht so sehr leidend aussähe.« Beim Scheidungstermin am 7. Januar 1903 fragte Klara, wie sich Karl May fühle, und schrieb seine Antwort in ihrem Tagebuch auf : »Erleichterung, … Es ist, als erwachte ich zu neuem Leben nach einer qualvollen Krankheit …«

Wie hat Karl May seine Trauer in seinem Werk dargestellt? Der Tod von Winnetou ist ein Beispiel: »… blitzten uns … einige Schüsse entgegen. Winnetou stürzte zu Boden. Ich blieb vor Schreck halten. ›Winnetou, mein Freund,‹ rief ich, ›hat eine Kugel getroffen?‹ ›Winnetou wird sterben,‹ antwortete er. Da erfaßte mich eine Wut, …[12] Ich kannte mich nicht. Der zweite Hieb traf den Mann, so daß er niedersank. … den dritten schlug ich noch nieder. … Ich wandte mich zu Winnetou und kniete neben ihm am Boden nieder. … die Kugel war ihm in die Lunge gedrungen. Mich erfaßte ein Schmerz, wie ich ihn in meinem ganzen Leben noch nicht gefühlt hatte. ›Noch wird Hoffnung sein, mein Bruder‹, tröstete ich. ›Mein Freund lege mich in seinen Schoß, daß ich den Kampf erkenne!‹ bat er. … ich … hielt seinen Kopf in meinen Armen und wagte nicht die geringste Bewegung.«[13] Old Shatterhand machte die Phasen Ärger und Ablehnung durch.

»Winnetou tot! Diese beiden Worte sind genügend, um die Stimmung zu bezeichnen, in welcher ich mich damals befand. Es war, als ob ich mich von seinem Grabe gar nicht trennen könnte. Ich saß in den ersten Tagen schweigend bei demselben und sah dem regen Treiben der Menschen zu, … Ich sage, ich sah zu, aber eigentlich sah ich nichts. Ich hörte ihre Stimmen, und dennoch hörte ich nichts. Ich war geistesabwesend. Mein Seelenzustand glich demjenigen eines Mannes, der einen Hieb auf den Kopf erhalten hat und, nur halb betäubt, alles wie von weitem hört und alles wie durch eine mattgeschliffene Glasscheibe sieht.« Dies war der Zustand der Trauer.

Es verging eine halbe Woche, ehe ich mich aufraffte … man mußte mir zwar jedes Wort abgewinnen, doch stellte sich die alte Thatkraft wieder ein, …«[14] Diese eher kurze Zeitspanne nach dem Ereignis spricht gegen irgendeinen ernsten depressiven Zustand. Ein Trauerprozess folgte auch der Beschreibung des Verlustes von Rih, dem berühmten Pferd von Kara Ben Nemsi.[15]

Laut ICD-10[16] kann eine ernste Depression entsprechend ihrem Schweregrad, psychotischen Merkmalen und somatischen (melancholischen) Symptomen eingeordnet werden. Der Schweregrad kann als mild, gemäßigt oder schwerwiegend klassifiziert werden. Schwerwiegende Depression kann auch eingeordnet werden je nach dem Vorhandensein oder Fehlen von psychotischen Symptomen, Halluzinationen oder Wahnvorstellungen.

ICD-10 klassifiziert keine Trauer als eine geistige Störung, obwohl es empfiehlt, daß Trauer, die intensiv bleibt, länger als sechs Monate dauert und als anormal auf irgendeine Weise angesehen wird, als eine Unterart von Anpassungsstörung eingeordnet werden kann.

DSM-IV[17] empfiehlt, dass die Gegenwart der folgenden Symptome helfen kann, größere Depression von Trauer zu unterscheiden: Schuldgefühle, die verbunden sind mit begangenen (oder unterlassenen) Handlungen zur Zeit des Todes der geliebten Person; Gedanken über den Tod, die mit dem Gefühl, daß der Betroffene lieber tot wäre oder mit seinem oder ihrem geliebten Menschen gestorben sein sollte, verbunden sind; intensive Gefühle der Wertlosigkeit; auffällige psychomotorische Verlangsamung; auffällige und anhaltende Beeinträchtigung der Funktionstüchtigkeit; und Halluzinationen, die beinhalten, die verstorbene Person zu hören oder zu sehen.

ICD-10 nennt somatische Symptome das ›somatische Syndrom‹. DSM-IV verwendet den Begriff ›melancholische Merkmale'. Extreme Stimmungsschwankungen sind seit dem Altertum beobachtet worden .[18] Hippokrates war der Erste im vierten Jahrhundert vor Christus, der ›Melancholie‹ beschrieb. Der deutsche Psychiater Emil Kraepelin unterschied, was er manisch depressives Irresein nannte von Dementia Praecox (später umbenannt in Schizophrenie). Der in der Klassik gebrauchte Begriff ›Melancholie‹ lebte nach der Renaissance wieder auf und wurde Mitte des Neunzehnten Jahrhunderts häufig verwendet.

Der Ausdruck Melancholie ist verwendet worden, um eine besonders schwerwiegende Form der größeren depressiven Erkrankung zu beschreiben, die aus dem Verlust der Freude an fast allen Aktivitäten, einem Mangel an Reaktionsfähigkeit auf angenehme Reize, und eine Veränderung der Qualität der depressiven Stimmung besteht, die anders als die Depression oder normales Empfinden ist. Diese Depression ist am Morgen am schlimmsten; es gibt merkliche psychomotorische Verlangsamung, auffällige Anorexie, frühes Erwachen am Morgen, und zwanghafte Schuldgefühle. Manchmal sind psychotische Merkmale vorhanden, insbesondere Wahnvorstellungen oder Halluzinationen von solchem Inhalt, der mit dem Gefühl von Unzulänglichkeit, Schuld, Krankheit, dem Tod und verdienter Strafe einhergeht.

Es ist interessant, daß Karl May eines der tödlichen Ergebnisse unbehandelter schwerwiegender Depression, den Selbstmord, beschrieb. In seinem Buch ›Winnetou IV‹[19] besucht Santer, der Sohn des Mörders von Winnetous Vater und Schwester, Karl May in Radebeul, nachdem er dort einen Arzt aufgesucht hatte: »Ich habe hier in Dresden einen Freund, der ein viel in Anspruch genommener Arzt und Psychiater ist«,[20] erwähnte Karl May. Santer konsultierte den Arzt wegen einer Fallgeschichte der Familie von schwerwiegender Depression: »Es handelte sich um den in einer Familie sich vererbenden Zwang zum Selbstmord, einen Zwang, der unbedingt sämtliche Glieder der Familie ergreift, ohne auch nur ein einziges zu verschonen, und bei dem Einzelnen ganz leise, leise beginnt, um nach und nach an Stärke zu wachsen, bis er unwiderstehlich wird.«[21]

Bedeutend gesunkene Stimmung und der Verlust des Interesses oder Vergnügens an Aktivitäten, die normalerweise unterhaltsam sind, sind charakteristisch für eine schwere Depression. Deprimierte Stimmung ist eine allgemeine und normale Erfahrung in der Bevölkerung. Jedoch kann eine größere depressive Episode von dieser ›normalen‹ Depression durch ihren Schweregrad, Ausdauer, Dauer und dem Vorhandensein von charakteristischen Symptomen unterschieden werden: Eindeutig deprimierte Stimmung – Verlust des Interesses oder der Freude – verminderte Selbstachtung.

Größere Depression ist von anhaltender tiefer Verzweiflung gekennzeichnet. Der richtige depressive Zustand macht diszipliniertes kreatives Schreiben unmöglich. Viele Leute mit Stimmungsstörungen behandeln sich mit Alkohol oder illegalen Medikamenten. Einige solche Personen vermeiden ärztliche Behandlung wegen potentieller Nebenwirkungen wie geistiger Trägheit. Es scheint keinen glaubwürdigen Bericht über Karl May zu geben, der darauf schließen lässt, dass es eine größere pathologische depressive Phase in seinem Leben gegeben hat.

   


 
 
 
Anmerkungen

   
[1] Die Erscheinungsjahre von Mays Werken, in »Ich«: Karl May’s Gesammelte Werke, Band 34, Bamberg 1991, S. 369ff.

[2] Streng genommen ist es kein spezieller Fall von Anpassungsstörung, obwohl anormale Trauerreaktionen in die Kategorie von Anpassungsstörungen eingeordnet werden können.

[3] Vgl. Ralf Harder: Karl May und seine Münchmeyer-Romane, Ubstadt 1996, S 164.

[4] Vgl. Hans Wollschläger: »Die sogenannte Spaltung des menschlichen Innern, ein Bild der Menschheitsspaltung überhaupt«, in: Jb-KMG 1972–1973, Hamburg 1973, S.  50–51; Anmerkung  81, S. 88–89.

[5] Claus Roxin: ›Die »Liebe des Ulanen« in Urtext‹. In: Mitteilungen der KMG, Nr.14 (Dezember 1972), S. 23ff. und Nr.15 (März 1973), S. 6ff.

[6] Ralf Harder: Karl May und seine Münchmeyer-Romane, wie Anm. 3, S. 247.

[7] Karl May: ›Winnetou‹, in (12), p. 175.

[8] Die üblichen Phasen von Verlust sind Ablehnung – Wut – Handeln – Annahme.

[9] Karl May: ›Mein Leben und Streben‹, Reprint Hildesheim – New York 1997, Anhang: S. 382–383.

[10] Karl May: ›Mein Leben und Streben‹, Freiburg [1910], S.155.

[11] Dr. W. E. Thomas: Karl May & Dissoziative Identitätsstörung.

[12] Karl May: ›Winnetou‹, Band III, Feiburg 1893, S. 470.

[13] Ebd., S. 471f.

[14] Ebd., S. 477.

[15] In Karl May: ›Der Schut‹, Freiburg 1892, 634ff.

[16] Internationale Klassifizierung von Krankheiten (ICD) -10te Auflage der Weltgesundheitsorganisation.

[17] Amerikanische Psychiatrische Vereinigung: Diagnostisches und statistisches Handbuch der Geisteskrankheiten, vierte Auflage. Washington DC: American Psychiatric Association 1994.

[18] Im ›Alten Testament‹ erzählt das Buch Samuel von Sauls Neigung zur Depression, die auf Musik ansprach: »Wenn nun der Geist Gottes über Saul kam, so nahm David die Harfe und spielte mit seiner Hand; so erquickte sich Saul, und es ward besser mit ihm, und der böse Geist wich von ihm.« (1. Samuel 16, 23)

[19] Karl May: Winnetou Band IV, Freiburg 1910.

[20] Ebd., S. 25.

[21] Ebd., S. 26. 

  


  

Karl May aus medizinischer Sicht

Karl May – Forschung und Werk