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von Anfang an symbolisch

Verfasst: 22.9.2016, 12:03
von rodger
Von Anfang an habe er symbolisch geschrieben, behauptete Karl May im Alter.

Ja und Nein. Es ist etwas dran, vielleicht nicht ganz so, wie er es dann nachträglich sehen bzw. darstellen wollte („beginnen diese Erzählungen mit dem ersten Bande in der »Wüste«. In der Wüste d. i. in dem Nichts, in der völligen Unwissenheit über Alles, was die Anima, die Seele und den Geist betrifft. Indem mein Kara Ben Nemsi, das »Ich«, die Menschheitsfrage, in diese Wüste tritt und die Augen öffnet, ist das Erste, was sich sehen läßt, ein sonderbarer, kleiner Kerl, der ihm auf einem großen Pferde entgegengeritten kommt“), aber in bestimmter Weise schon.

Schauen wir uns die erste Episode in „Durch die Wüste“ an, Salzsee und Kbili, ein recht früher Text, was ist da – an wesentlichem - drin, was will uns „der Dichter damit sagen“ oder sich selber von der Seele schreiben oder ganz einfach nur: zum Ausdruck bringen …

Der Boden, auf dem wir uns bewegen („diese freundlich glitzernde, aber trügerische Fläche“ …), kann jederzeit unter unseren Füßen wegbrechen … Es gibt keine Sicherheit.

Aber der Weg kann und muß begangen werden … „Du sollst den Sumpf des Todes sehen, den Ort des Verderbens, das Meer des Schweigens, über welches ich Dich hinwegführen werde mit sicherem Schritte.“ (In Band 12 „Am Rio de la Plata“ begegnet uns solches wieder, als Pater Jaguar unseren Erzähler über den Sumpf führt …) (In Winnetou II vermittelt sich im ‚Scout‘ – Teil ähnliches, „Ich hatte dabei ein Gefühl der Unsicherheit, denn es war mir immer, als müsse mir ein Pfeil oder eine Lanze in den Rücken fahren“, „Ueber die Grenze sind wir hinüber; ob und wie wir wieder herüberkommen, das steht in einem Buch gedruckt, welches ich noch nicht gelesen habe“ ...)

Des Erzählers oder auch jeden bewußten Menschens, der sozusagen mit offenen Augen durch die Welt geht, Lebensgefühl „mochte ungefähr das Gefühl eines Seiltänzers sein, der nicht genau weiß, ob das Tau, welches ihn trägt, auch gehörig befestigt worden ist.“

Wir sind in Gottes Hand. Ausgeliefert. Er kann uns verderben, er kann uns retten.

Hilflos auf dem Schott … („Wir werden verderben, wir werden verhungern und verdursten.« »Wir werden einen Führer haben.« „Obgleich ich die Ueberzeugung hegte, daß der Sohn des ermordeten Führers kommen werde, konnte er doch statt über der See, um denselben herumgegangen sein. Wir warteten also mit großer, ja mit ängstlicher Spannung.“)

Im Geschäftsleben (wie auch z.B. im Gesundheitswesen … in der Politik … u.a. …) geht es nicht um Menschen sondern um Geld und es wird ggf. über Leichen gegangen, Menschenleben zählen nicht.

(„Warum ist Omar, Dein Sohn, Führer nach Seftimi geworden? Ihr nehmt mir mit Gewalt das Brod hinweg, damit ich verhungern soll; Allah aber wird Euch strafen und Eure Schritte so lenken, daß Euch der Schott verschlingen wird.“) („Die beiden Mörder wollten ihre Ankläger verderben; sie hatten ihren Führer um so leichter gewonnen, als derselbe auf den unserigen eifersüchtig war.“)

Die Obrigkeit ist korrupt. (oder sagen wir freundlicherweise, das muß nicht immer so sein, aber das kann so sein ...)

(„Ein steckbrieflich verfolgter Mörder war der Gast eines großherrlichen Statthalters!“) („Diese Subalternen sind oder waren nichts anderes, als die Stiefelputzer und Pfeifenstopfer der höheren Chargen. […] Der brave Wekil war also in Beziehung auf seinen Unterhalt auf Erpressung angewiesen, und da dies den Eingebornen gegenüber immer eine gefährliche Sache war, so mußte ihm ein Fremder wie ich ganz gelegen kommen. […] er wohnte unter räuberischen Nomaden, glaubte mich schutzlos und nahm also an, ungestraft thun zu können, was ihm beliebte.“)

Menschen sind ggf. nach Belieben manipulierbar.

(Bezieht sich hier auf die Frau des Wekil, die unser Autor mit viel Geschick und Charme völlig um den Finger wickelt, wobei sie nicht ahnt, wie sehr er sie verachtet bzw. nicht ernst nimmt … die Verachtung hat nichts Bitteres an sich, kommt mit Leichtigkeit, entspannt daher …)

Irdische Gerechtigkeit gibt es nicht. Das ‚Böse‘ läßt sich nicht aus der Welt schaffen, ist und bleibt in ihr … ist ihr immanent.

Der Wekil läßt die Mörder entfliehen und des Erzählers Ärger darüber hält sich in sehr engen Grenzen. („Wekil, ich will Dir sagen, daß ich meinerseits mit diesem Abu el Nassr, der eigentlich Hamd il Amasat heißt und schon vorher wohl auch noch einen armenischen Namen getragen hat, gar nichts zu schaffen haben mag, sobald er mich in Ruhe läßt.“)

Man verliere über alledem den Humor nicht … Man nehme das alles wahr, aber zerbreche keineswegs daran …(z.B. die Beschreibung der Soldaten, der ganzen „Gerichtsbarkeit“ …das kommt alles recht komisch daher, „Die Sache war zu komisch, als daß ich eine Bewegung zu meiner Befreiung hätte machen mögen“, man darf darüber freilich nicht vergessen, daß es auch um Willkür und Gewalt geht, daß Menschen, die nicht vom Schlage eines Kara Ben Nemsi sind, unter solchen Umständen bitteres Unrecht erleiden können, oder zu Tode kommen können …)

„O Du beglückende Pantoffelherrschaft, Dein Zepter ist ganz dasselbe im Norden wie im Süden, im Osten wie im Westen!“ Und eben nicht nur die „Pantoffelherrschaft“, sondern alles andere oben erwähnte auch … („Verlegen Sie das Alles einmal nach Deutschland …“ (Karl May an Willy Einsle)) Und das alles ist z-e-i-t-l-o-s …

*

(Sozusagen schwindelerregend (d.i. ein Zitat; in einer Fernehsendung vor einigen Jahrzehnten wurde gesagt, Napoleon habe als Kind in ein Schulheft die „schwindelerregenden“ Worte „St. Helena – winzige Insel“ geschrieben …) finde ich ja die Initialien E.P. im Ring des aufgefundenen Toten … bin mir weiterhin noch nicht sicher wie das zu deuten ist, es dürfte aber mit des Erzählers Weltwahrnehmung zu tun haben, bereits im bunt appetitlich schimmernden Apfel den Wurm bzw. um die Möglichkeit, daß er darin ist, zu wissen …)

Re: von Anfang an symbolisch

Verfasst: 22.9.2016, 21:00
von mugwort
Symbolik überfordert mich gerne mal. Ich kann zwischen den Zeilen lesen, es muss auch nicht immer der Holzhammer sein - aber Symbolik? Meist finde ich den Schlüssel nicht. Da stehe ich dann, als zutiefst geerdeter Mensch und sehe anderen - auch May - staunend beim Fliegen zu. Oder beim Tanz auf dem Seil. Weil ich gar nicht auf die Idee komme, mein Seil könnte reißen. Ich bin in Gottes Hand. Aber nicht ausgeliefert.

Von daher setzte ich mich mangels Sachkompetenz nun entgegen meiner sonstigen Schwatzhaftigkeit auf die Finger und schreiben nicht so viel. Nur zwei Anmerkungen kann ich mir nicht verkneifen:

Erstens: Ob May von Anfang an "symbolisch" geschrieben hat, weiss ich nicht (entsprechend Hinweise nehme ich dankend entgegen, ich bin lernfähig). Aber dass er - zumindest in den meisten Werken - von Anfang weit mehr erzählt hat und erzählen wollte als eine spannende Abenteuergeschichte oder gar eine ethnographische Schilderung fremder Länder, dürfte doch hier (selbstverständliche) Mehrheitsmeinung sein, oder? Mich überzeugt ja insoweit das Bild vom "geographischen Prediger".

Zweitens:
rodger hat geschrieben: „O Du beglückende Pantoffelherrschaft, Dein Zepter ist ganz dasselbe im Norden wie im Süden, im Osten wie im Westen!“ Und eben nicht nur die „Pantoffelherrschaft“, sondern alles andere oben erwähnte auch … („Verlegen Sie das Alles einmal nach Deutschland …“ (Karl May an Willy Einsle)) Und das alles ist z-e-i-t-l-o-s …
Nochmal anders dazu, und das unterscheidet May von vielem, was als wohlgemeintes Multikulti-Geschwätz durch die Medien wabert (und das macht ihn so unglaublich aktuell): Der/das Fremde ist nicht wirklich anders. "Anders" ist auf der Oberfläche. Im Kern ist das "Zepter ganz dasselbe im Norden wie im Süden". Howgh.

Viele Grüße
mugwort


P.S.:
rodger hat geschrieben: (Sozusagen schwindelerregend (d.i. ein Zitat; in einer Fernehsendung vor einigen Jahrzehnten wurde gesagt, Napoleon habe als Kind in ein Schulheft die „schwindelerregenden“ Worte „St. Helena – winzige Insel“ geschrieben …) finde ich ja die Initialien E.P. im Ring des aufgefundenen Toten … bin mir weiterhin noch nicht sicher wie das zu deuten ist, es dürfte aber mit des Erzählers Weltwahrnehmung zu tun haben, bereits im bunt appetitlich schimmernden Apfel den Wurm bzw. um die Möglichkeit, daß er darin ist, zu wissen …)
Da steht wirklich E.P. drin? Dann wäre er selbst der Tote im Wadi Tarfaui??? Da wird was draus....

Re: von Anfang an symbolisch

Verfasst: 22.9.2016, 21:46
von rodger
mugwort hat geschrieben: Aber nicht ausgeliefert.
Ich meinte "ausgeliefert" im Sinne etwa von "selber ganz machtlos", falls Dir die Formulierung "ausgeliefert" zu negativ besetzt klingt.
dürfte doch hier (selbstverständliche) Mehrheitsmeinung sein, oder?
Äh ... hm. Hm.
wohlgemeintes Multikulti-Geschwätz durch die Medien wabert
In der Tat wabert allerhand Multikulti-Geschwätz durch die Medien ... aber ich vermute mal, daß wir beide ganz unterschiedliche Dinge meinen bzw. ganz unterschiedlich drauf gucken ...
Der/das Fremde ist nicht wirklich anders. "Anders" ist auf der Oberfläche. Im Kern ist das "Zepter ganz dasselbe im Norden wie im Süden". Howgh.
Ob Howgh oder nicht das bleibt sich gleich, aber Nord ist Nord und Süd ist Süd ... Das ist zwar von Otto Eicke, aber es stimmt trotzdem ... und die Gleichheit der Menschen mag ein Gesetz sein, aber keine Macht der Welt kann sie zu einer Tatsache machen ...
Dann wäre er selbst der Tote im Wadi Tarfaui???
So hab' ich's noch gar nicht gesehen ... aber stimmt ja eigentlich ...

Re: von Anfang an symbolisch

Verfasst: 23.9.2016, 12:43
von mugwort
rodger hat geschrieben:
mugwort hat geschrieben: Aber nicht ausgeliefert.
Ich meinte "ausgeliefert" im Sinne etwa von "selber ganz machtlos", falls Dir die Formulierung "ausgeliefert" zu negativ besetzt klingt.

Hierzu könnte man einen eigenen Diskussionsstrang eröffnen:
Sind wir Gott gegenüber in allem wirklich machtlos? Wie frei sind wir geschaffen, wie weit determiniert? Ich habe keine Ahnung. Ich fühle mich durchaus (auch, in Grenzen) frei, aber welchen Wahrheitsgehalt hat schon ein Gefühl?
Ist "Verderben" eine göttliche Option? Mein Glaube sagt mir nein, Gott wird und will mich nicht verderben, niemals, unvorstellbar. Aber zugleich muss ich gestehen: Einer harten Probe ist dieser Glaube bislang nicht unterworfen worden. Dass er sich auch in Grenzsituationen als tragfähig erweist, kann ich nur hoffen, respektive hoffen, dass mir eine ernsthafte Probe erspart bleibt.
dürfte doch hier (selbstverständliche) Mehrheitsmeinung sein, oder?
Äh ... hm. Hm.

Nein? Dann nehme ich das mit der Mehrheitsmeinung selbstverständlich zurück...
wohlgemeintes Multikulti-Geschwätz durch die Medien wabert
In der Tat wabert allerhand Multikulti-Geschwätz durch die Medien ... aber ich vermute mal, daß wir beide ganz unterschiedliche Dinge meinen bzw. ganz unterschiedlich drauf gucken ...

Da haben wir sie wieder, die Wellenlänge...
Der/das Fremde ist nicht wirklich anders. "Anders" ist auf der Oberfläche. Im Kern ist das "Zepter ganz dasselbe im Norden wie im Süden". Howgh.
Ob Howgh oder nicht das bleibt sich gleich, aber Nord ist Nord und Süd ist Süd ... Das ist zwar von Otto Eicke, aber es stimmt trotzdem ... und die Gleichheit der Menschen mag ein Gesetz sein, aber keine Macht der Welt kann sie zu einer Tatsache machen ...

Ist mein ganz persönliches Howgh und meine ganz persönliche Erfahrung (naturgemäß subjektiv und weder umfassend noch repräsentativ). Während andere noch lange darüber nachdenken, ob und wie und unter welchen Voraussetzungen interkulturelle Begegnungen, Freundschaften, ein gemeinsames Gebet möglich sind und was man dafür alles wissen, können und vorbereiten muss, sind Winnetou und Old Shatterhand längst Brüder für ewig. Und Kara und Halef auch. DAS ist genial und brandaktuell anno 20xx. Nicht multikulti sind wird, sondern multimensch. Sprach der Elch...
Dann wäre er selbst der Tote im Wadi Tarfaui???
So hab' ich's noch gar nicht gesehen ... aber stimmt ja eigentlich ...

In Folge wäre dann Anlass/Ziel eines beträchtlichen Teils der Reise (u.a.), dem Toten Gerechtigkeit zukommen zu lassen. Das hat was. Wo sind die Kenner und die Psychologen, die diesen Faden weiterspinnen können/ wollen???

Re: von Anfang an symbolisch

Verfasst: 23.9.2016, 14:32
von rodger
mugwort hat geschrieben: Sind wir Gott gegenüber in allem wirklich machtlos? Wie frei sind wir geschaffen, wie weit determiniert? [...]
Ist "Verderben" eine göttliche Option? Mein Glaube sagt mir nein, Gott wird und will mich nicht verderben, niemals, unvorstellbar. Aber zugleich muss ich gestehen: Einer harten Probe ist dieser Glaube bislang nicht unterworfen worden. Dass er sich auch in Grenzsituationen als tragfähig erweist, kann ich nur hoffen, respektive hoffen, dass mir eine ernsthafte Probe erspart bleibt.
Nehmen wir z.B. eine Krebserkrankung. Metastasen. Ein zuvor großer, kräftiger, lebensfroher Mensch geht innerhalb weniger Monate zugrunde. Und kann nichts machen. Und der Partner auch nicht. Der eine muß sterben, und der andere muß zugucken. Da ist es nichts mit Freiheit und Willen … Ich mußte es just erleben. (Mit dem Ersparen von ernsthaften Proben war es überhaupt lebenslänglich bislang nicht wirklich etwas ...) (Man muß es halt aushalten ... "Du mußt stehen" hat Kohl senior immer zu Kohl junior gesagt. Recht hat er. Kohl junior indes hat es nicht wirklich begriffen und lamentiert darüber herum in seinem Buch ...)

Und das nenne ich verderben … irdisch betrachtet. Ich hätte auch formulieren können, Gott hole den betreffenden Menschen zu sich. Klingt freundlicher. Am Sachverhalt ändert sich nichts …

Oder der Tsunami damals. Wenn Gott will, beschert er uns einen entspannten Urlaub in der Hängematte. Wenn er aber anders will, läßt er uns zu Tausenden miteinander absaufen ... So ist das. Wir müssen das nicht verstehen.
Da haben wir sie wieder, die Wellenlänge...
Ja, da haben wir sie. (Dazu fällt mir, nebenbei geschwätzt, die Filmszene mit Heinz Ehrhardt ein, als er die Treppe heruntergeht, neben ihm ein Kühlschrank die Treppe hinunterpoltert, die Tür geht auf, der Inhalt fällt heraus, Erhardt hebt ein Salatblatt auf und konstatiert „Da haben wir den Salat“ ...)

Darüberhinaus haben wir hier sicherlich auch unterschiedliche Haltungen, mit der Wellenlänge allein ist’s hier nicht getan …

:D
sind Winnetou und Old Shatterhand längst Brüder für ewig. Und Kara und Halef auch. DAS ist genial und brandaktuell anno 20xx. Nicht multikulti sind wird, sondern multimensch. Sprach der Elch...
Damit der Elch humani nicht abhebt vor lauter WirsindalleBrüderundSchwesternundallesistganzprimaunddieWeltist schönundKarlMaywareinganzLieberichkönntihnknuddeln hier als kleines Gegengewicht:
Karl May (in Winnetou II hat geschrieben: Am letzten Tage war er zu uns herübergekommen und hatte uns gefragt, ob wir ihm nicht den Gefallen tun wollten, seinen Neger Sam mitzunehmen. Natürlich waren wir über diese Forderung sehr erstaunt gewesen, ohne es uns anmerken zu lassen. Es ist nicht jedermanns Sache, wochenlang mit einem Schwarzen zu reiten, der einen ganz und gar nichts angeht
Bei der Google-Suche nach weiteren Zitaten in der Art fand ich im Netz das Buch „Des Übermenschen Schönheit kam zu mir als Schatten“, dort kannst Du auf S. 276 f. selber gucken …

Re: von Anfang an symbolisch

Verfasst: 23.9.2016, 16:29
von Hermann Wohlgschaft
Der Begriff "multikulti" ist leider zum Schmähwort geworden. Die Unterscheidung von "multikulti" und "multimensch" verstehe ich nicht so recht. Das eine schließt doch das andere mit ein. "Multimensch" kann ich doch nur sein, wenn ich offen bin auch für andere (nichteuropäische, nichtchristliche) Kulturen und wenn ich bereit bin, diese anderen Kulturen als Geschenk, als Bereicherung zu sehen und nicht als Bedrohung.

Zur Freiheit: Gewiss bin ich nicht uneingeschränkt frei. Es gibt z.B. Naturgesetze, die mich eingrenzen, es gibt auch kollektive menschliche Verstrickungen (in der traditionellen Theologie, ziemlich unglücklich, als "Erbsünde" bezeichnet), in die ich von Anfang an, also seit meiner Geburt (oder richtiger: seit meiner Zeugung durch meine Eltern), verwickelt werde - was meine Freiheit sehr einschränkt.

Interessant finde ich mugworts Frage (die ja eigentlich schon eine These ist): Bin ich GOTT gegenüber wirklich "machtlos"? Meine (wie vermutlich auch mugworts) Auffassung: Ich bin Gott gegenüber keineswegs machtlos. Ich kann z.B. Gottes Liebe zu mir, ja seine Sehnsucht nach mir, in Freiheit zurückweisen. Dabei setze ich freilich ein Gottesbild voraus, wie es die alttestamentlichen Propheten und wie es noch viel deutlicher auch Jesus verkündete/n: Gott ist kein unbewegter Beweger, "kein leidenschaftsloser Verfüger, der in unbedürftigem Selbstgenügen in sich selber ruht" (Fulbert Steffensky). Nein, Gott hat Sehnsucht nach der Gegenliebe des Menschen, so wie sich der Liebhaber nach der Geliebten sehnt. Wenn ich Gott meine Gegenliebe verweigere, dann "verletze" ich ihn gewissermaßen, ja dann "kreuzige" ich ihn (Vgl. Jürgen Moltmann: Der gekreuzigte Gott).

Noch weiter zur Freiheit: Verliere ich spätestens im Sterbeprozess und allerspätestens im Todesmoment meine Freiheit? Ich denke, nein. Im Tod kann ich mich immer noch entscheiden, ob ich alles gebe oder ob mir alles genommen wird. Insofern ist der Tod (nach Karl Rahner u.a.) nicht nur ein passives Geschehen, sondern auch etwas aktives, eine freie "Tat" des Sterbenden. Dieses "alles geben" (ein anderes Wort für "lieben") muss freilich schon während des ganzen Lebens eingeübt werden. Winnetou z.B. (in Mays Deutung in W IV) hat während seines ganzen Lebens immer nur Liebe gegeben (was in manchen Partien in W I-III schon angedeutet, in anderen Partien aber konterkariert wird), deshalb war auch sein Sterben eine freie Tat der Liebe.

Und nochmals zur Freiheit: Ich kann mich stets entscheiden, ob ich in meinem Leben nur das Missglückte oder mindestens genauso das Geglückte wahrnehmen will (die berühmte Sache mit dem halbvollen und halbleeren Glas). Nur wenn ich in eine krankhafte schwere Depression verfalle, wird mir diese Freiheit weitgehend oder ganz genommen. Was wiederum zeigt: Es ist eine ganz vertrackte Sache mit der Willensfreiheit.

Viele Grüße
Hermann

Re: von Anfang an symbolisch

Verfasst: 23.9.2016, 16:54
von rodger
Hermann Wohlgschaft hat geschrieben: Ich kann mich stets entscheiden, ob ich in meinem Leben nur das Missglückte oder mindestens genauso das Geglückte wahrnehmen will (die berühmte Sache mit dem halbvollen und halbleeren Glas).
Oder das [vermeintlich] Miß- bzw. Geglückte nicht werten ...
Dein Ich wird dünner, kleiner, immer kleiner,
Und dennoch mußt du wieder in das Feuer – –
Und wieder – – immer wieder, bis der Schmied
Den Geist erkennt, der aus der Höllenqual
Und aus dem Dunst von Ruß und Hammerschlag
Ihm ruhig, dankbar froh entgegenlächelt.
(nochmal der Hinweis auf die letzten Tagebücher von Sandor Marai ... dem wird alles genommen ... und er hält alles aus und hält alles durch ...)

(Was aber machen die in Watte gepackten wenn ihnen dann mal was hineinbrettert in ihr behütetes Leben ...)

Re: von Anfang an symbolisch

Verfasst: 23.9.2016, 18:21
von Hermann Wohlgschaft
Rüdiger hat geschrieben: Oder das [vermeintlich] Miß- bzw. Geglückte nicht werten ...

Wahr ist: Manchmal erweist sich das vermeintliche Unglück hinterher als Glück und das vermeintliche Glück hinterher als Unglück. :wink: Ich hoffe aber, dass bei der Endabrechnung das Glück total überwiegt - so total, dass das Unglück keine Rolle mehr spielt.

Zu Sandor Marai: Wenn mir alles genommen wird und ich halte das aus, dann ist dies genau jene freie Entscheidung, die ich meine. Wenn ich alles verliere, habe ich immer noch die Wahl, es auszuhalten oder im Jammer zu versinken.

Re: von Anfang an symbolisch

Verfasst: 24.9.2016, 20:12
von mugwort
Hermann Wohlgschaft hat geschrieben:Der Begriff "multikulti" ist leider zum Schmähwort geworden. Die Unterscheidung von "multikulti" und "multimensch" verstehe ich nicht so recht. Das eine schließt doch das andere mit ein. "Multimensch" kann ich doch nur sein, wenn ich offen bin auch für andere (nichteuropäische, nichtchristliche) Kulturen und wenn ich bereit bin, diese anderen Kulturen als Geschenk, als Bereicherung zu sehen und nicht als Bedrohung.
Vielleicht habe ich mich mit dem flugs erfundenen Wort "multimensch" doch zu flapsig ausgedrückt.

Ich meine damit, dass - so meine Wahrnehmung - in dem aktuellen, durchaus von vielen Seiten auch gut gemeinten Diskurs die "Zugehörigkeit" eines Menschen zu einem "Kulturkreis" und den daraus resultierenden Folgen für das Miteinander schlicht überbewertet wird. Die Betonung der "kulturellen Unterschiede" fördert das Schubladendenken und lässt den Anderen noch fremder erscheinen als er ohnehin wirkt. Der Blick auf die "fremde Kultur" únd das Bemühen um die Lösung - vorgeblich - kultureller Konflikte/ Verständigungsprobleme verstellt den Blick auf die tatsächlichen Ursachen von zwischenmenschlichen und sonstigen Problemen. .

Ich möchte eine andere Herangehensweise: Den Anderen nicht primär als Teil einer "fremden" Gruppe betrachten, sondern zunächst als einen mir im Kern "gleichen" Menschen. Es begegnen sich Menschen (multi-mensch), nicht Kulturen (multi-kulti). Das gibt dem anderen und mir die Chance zur unvoreingenommenen Begegnung. Eine wertschätzende Grundhaltung ist dabei vorausgesetzt. Sonst funktioniert es ohnehin nicht.

Um zu Karl May zurückzukommen: Mit der - so selbstverständlichen, völlig unthematisierten und unproblematisierten Schilderung von Freundschaften über Grenzen hinweg trifft Karl May recht deutlich meinen Ansatz (vielleicht hab ich ihn ja auch von Karl May, wer weiß). Die Idee, die Bindung zwischen Old Shatterhand und Winnetou könnte an "interkulturellen Differenzen" scheitern oder man bräuchte zuvor zu erwerbende "interkulturelle Kompetenz" kommt May erst gar nicht.

Noch zwei Anmerkungen, um nicht missverstanden zu werden (ich stehe nicht gerne in der Friedefreudeeierkuchenecke!):

Ich weiss sehr wohl, dass Karl May stereotypes Denken (vielleicht sogar ab und an latent rassistisches, jedenfalls auch eurozentristisches) nicht immer fremd war, dass sich derartige Passagen in seinen Werken problemlos finden lassen (ich meine meist dann, wenn er nicht selbst reflektiert, sondern "by the way" im Mainstream seiner Zeit mitschwimmt), dass seine Schilderungen vielleicht nicht so unbedarft ausgefallen wären, wenn er realen Kontakt zu "Fremden" gehabt hätte und dass er im wirklichen Leben nicht immer ein Heiliger war. Das macht aber das, was er zu Papier gebracht hat, im obigen Sinne nicht weniger wertvoll, vorbildhaft und (tages)aktuell.

Ich weiss sehr wohl, dass der oben beschriebene "mulitmensch-Ansatz" eine Schablone ist und - selbstverständlich - das Verhalten eines Individuums auch durch seine soziale Gruppenzugehörigkeit (Religion, Schicht, Herkunft, Nationalität, Kultur usw.) determiniert ist. Meine ganz persönliche Erfahrung nach über 20 Jahren binationaler und bireligiöser Beziehung sind allerdings: Herkunftsland und Religion verursachen die allerwenigsten zwischenmenschlichen (und gesellschaftlichen) Probleme. Die daraus resultierenden Unterschiede bewegen sich in den allermeisten Fällen auf der Oberfläche, auch wenn sie auf den ersten Blick auffallend und bedeutend erscheinen mögen. Beziehungen scheitern (meist) nicht an der Kultur, sondern am individuellen Charakter, soziale Probleme in einer Gesellschaft haben (in der Regel) soziale Ursachen, kein kulturellen.

Mit Friedefreudeierkuchenwirhabenunsallelieb hat meine Denke übrigens nicht viel zu tun (ich bin ja manchmal etwas unbedarft sein, aber sicher nicht naiv) - mir scheint es nur sinnvoll, Konflikte vor dem Hintergrund ihrer wirklichen Ursachen auszutragen - nicht stellvertretend auf der Bühne des "clash of civilizations".

Re: von Anfang an symbolisch

Verfasst: 25.9.2016, 8:36
von Hermann Wohlgschaft
Zum eigentlichen Threadthema: In seinen GP, also schon ganz am Anfang seines literarischen Schaffens, erklärte May ja ausdrücklich, dass er Himmel und Erde, Land und Wasser, Berg und Tal, Wald und Feld usw. in einem metaphorischen Sinne verstehe. Insofern "von Anfang an symbolisch".

Noch zu meinem vorgestrigen Eintrag: Wenn ich (im Anschluss an Moltmann, Sölle u.v.a.) von der "Leidensfähigkeit" Gottes spreche, setze ich einen "trinitarischen" Gottesbegriff voraus. In seinem "Sohn" hat sich auch der "Vater" verletzlich gemacht. Denn es kann den "Vater" ja nicht kalt lassen, wenn er seinen "Sohn" am Kreuz hängen sieht. Und da nicht nur Jesus, sondern auch unzählige andere Geschöpfe (Tiere mit eingeschlossen) unsäglich geschunden werden, wird gleichsam Gott selbst "gekreuzigt". Wie Gott es dann am Ende schaffen wird, dass die Liebe den Tod und das Leid endgültig überwindet, entzieht sich meinem Erkenntnisvermögen. Aber ich hoffe ganz fest, dass er es schaffen wird. :wink:

Re: von Anfang an symbolisch

Verfasst: 28.9.2016, 23:40
von mugwort
Gestern hatte ich den Schluss des "Orientzyklus"-Hörspiels mit der Rache Omar ben Sadeks im Ohr. Ich habe mich gewundert, warum a) Omar ben Sadek Hamd el Amasad nicht tötet, b) Hamd el Amasad nicht irgendeine Schlucht hinunterstürzt, vom Pferd fällt oder sonst etwas in dieser Art und c) geblendet - also in Finsternis gestoßen - wird. Ist ja im Geschehensablauf nicht gerade das nächstliegende.

Anlass genug, den Faden mit dem Ehering von Paul Galingré weiterzuspinnen (Karl May möge mir verzeihen, wahrscheinlich lacht er sich jetzt posthum einen Ast über so viel Interpretation). Aber dennoch:

Wir haben auf dem Ring eingraviert: E.P. für Emilie Galingré, geb. Pouillet, die Ehefrau des Ermordeten. E.P., klar, sind die Initialen von Emma Pollmer, Emilie und Emma sind durchaus ähnliche Namen, klanglich und optisch liegen zwischen Pouillet und Pollmer auch nicht gerade Welten. Assoziativ bin ich (als jemand, er nicht französisch spricht) noch bei Poulette - sei es als Kose- oder als Spottnamen.

Der Tote ist also Karl May selbst. Der "Vater des Sieges", Abu en Nassr/ Hamd El Amasat (nach der Bedeutung dieses Namens suche ich noch) hat ihn getötet. Er ist also besiegt worden. Er liegt am Boden. Fertig mit dieser Welt.

Wer hat Karl May "besiegt", im übertragenen Sinne "getötet"? Biografisch fallen sofort die Vorstrafen sein. Karl May besiegt von der Strafjustiz, der Gesellschaft, dem Umständen seiner Jugendzeit. Aber nicht zuletzt auch von der dunklen Seite in sich selbst. Die langjährigen Haftstrafen sind schließlich nicht vom Himmel gefallen - und eine zweite Chance hat der junge May durchaus mehr als ein mal erhalten. Ich vermute, das war ihm durchaus bewußt.

Jetzt erscheint Kara Ben Nemsi auf der Bühne. Er findet den Toten und folgt den Spuren, um dem Toten Gerechigkeit zukommen zu lassen. Die Lichtgestalt, das Wunsch-Ich, die helle Seite Karl Mays. macht sich auf den Weg, um den von der "dunklen Seite" Besiegten zu retten. Wir haben also den "inneren Kampf", den jeder von uns führt. Dschihad nennt das der Moslem (um hier by the way einen verfemten Begriff richtig zu stellen).

In der Folgezeit trifft Kara Ben Nemsi mehrfach auf Hamd el Amasat. Aber entweder weiß er nicht so recht, was er mit ihm anfangen soll und lässt ihn laufen oder Hamd el Amasat gelingt die Flucht.
Es ist eben nicht so einfach mit dem Sieg des Guten über das Böse.

Nach einem langen Weg durch hunderte von Druckseiten wird Hamd el Amasat endgültig gestellt und von Omar ben Sadek geblendet. Nicht getötet. Damit ist der Gerechtigkeit genüge getan. Was machen wir jetzt "symbolisch" aus diesem Befund?

Wer ist Omar ben Sadek? "Omar" ist auf arabisch der Langlebende, Sadek (als Sadeeq gelesen) könnte "Freund" bedeuten. Dann könnte man assoziativ dazu kommen: Die Rettung gelingt nicht allein, ein "Freund fürs Leben" ist dafür nötig. Das Böse wird auch nicht ganz verschwinden. Es zählt schon als Sieg, es hilflos zu machen, machtlos (wie der geblendete Hamd el Amasad).

Könnte May so etwas in der Art wirklich gemeint haben? Oder ist das einfach zu spekulativ, zu weit an den Haaren herbeigezogen???

Re: von Anfang an symbolisch

Verfasst: 29.9.2016, 9:22
von rodger
Die Interpretation mag so ein wenig konstruiert sein, aber es stehen sehr richtige Dinge in dem Beitrag ...
mugwort hat geschrieben: Aber nicht zuletzt auch von der dunklen Seite in sich selbst. Die langjährigen Haftstrafen sind schließlich nicht vom Himmel gefallen
Endlich mal eine[r] ...

Siehe auch Schmiedt, S. 50, gern noch mal zitiert weil so treffend:
taugt er endgültig nicht für die Rolle eines rundum bemitleidenswerten Opfers, dem bitteres Unrecht geschehen ist

mugwort hat geschrieben:Wir haben also den "inneren Kampf", den jeder von uns führt. Dschihad nennt das der Moslem (um hier by the way einen verfemten Begriff richtig zu stellen).
Sehr gut.
Es ist eben nicht so einfach mit dem Sieg des Guten über das Böse.
Es ist nicht nur nicht so einfach, es ist, wie sprach der Clown, niiiit möööglich ...

Re: von Anfang an symbolisch

Verfasst: 30.9.2016, 19:22
von Hermann Wohlgschaft
Der Deutungsansatz mugworts findet sich - exzessiv - auch in sämtlichen Jahrbuch-Beiträgen Walther Ilmers. Im Prinzip stimme ich diesem Ansatz zu (in allen Erzählungen Mays steckt eine verkappte, sehr kunstvoll verschlüsselte Autobiografie), im Einzelnen geht Ilmer aber in seinen Hypothesen, zumindest gelegentlich, zu weit. Finde ich.

Hat May in den Anfängen seiner Straftäterzeit wirklich eine "zweite Chance" bekommen? Ich bin da skeptisch. Die ersten "Straftaten" Mays waren Bagatelldelikte, die jeweils mit völlig unangemessener Höchststrafe quittiert wurden. Da ist es doch kein Wunder, dass der junge Mann sich (wie es in L & S heißt) "rächen" wollte an der Gesellschaft. Außerdem bezweifle ich (trotz Rüdiger Wick, Helmut Schmiedt u.a.) nach wie vor, dass May seine "echten" Straftaten (ab 1864) in einem voll zurechnungsfähigen Zustand begangen hat. Ich halte es für durchaus möglich, dass er zur Tatzeit psychisch derart gestört war, dass eine verminderte (oder sogar vollständige) Schuldunfähigkeit vorlag. Ich bin mir ganz und gar nicht sicher, dass Mays Darstellung seines Psychozustands in den 1860er Jahren (in L & S) nur - zum Zwecke der Selbstrechtfertigung - erstunken und erlogen war. Ja, ich tendiere eher zu der Auffassung, dass Mays Darstellung in L & S in wesentlichen Punkten korrekt ist.

Das soll natürlich nicht heißen, dass May nie wirklich schuldig wurde, o nein! Aber seine eigentliche Schuld lag m. E. nicht in den Straftaten der 1860er Jahre, sondern in ganz anderen Dingen (z.B. in der Art, wie er mit Marie Hannes umgesprungen ist).

Re: von Anfang an symbolisch

Verfasst: 30.9.2016, 19:29
von rodger
Hermann Wohlgschaft hat geschrieben: im Einzelnen geht Ilmer aber in seinen Hypothesen, zumindest gelegentlich, zu weit. Finde ich.
Ich auch. :D

Mit Ilmer ist es so eine Sache, manchmal ist er ganz großartig, manchmal eher zum Kopfschütteln ... (sowas soll's geben ... :D )
Ich bin mir ganz und gar nicht sicher, dass Mays Darstellung seines Psychozustands in den 1860er Jahren (in L & S) nur - zum Zwecke der Selbstrechtfertigung - erstunken und erlogen war.
Erstunken und erlogen nicht, aber geschönt, zurechtgebogen ... manipulativ ...
ich tendiere eher zu der Auffassung, dass Mays Darstellung in L & S in wesentlichen Punkten korrekt ist.
in einigen wesentlichen Punkten sicher, in anderen eher nicht ... :D