Im Reich des Silbernen Löwen II, Nachlässige Vergesslich-
Verfasst: 4.11.2008, 16:06
oder arrogante Überheblichkeit?
Hallo!
Bisweilen weiß ich nicht, was ich von Kara Ben Nemsi halten soll; und von Karl May.
Da schreibt der eine und der andere erzählt dies:
»Was fehlt dem Scheik der Haddedihn?« erkundigte sich Nafar Ben Schuri. »Hat er vielleicht den Suchuna 2)?«
»Nein,« antwortete ich.
»Oder die Berdija 3)?«
»Nein.«
»Oder die Chumma mutallati 4)?«
»Auch diese nicht. Er hat gestern vergifteten Kaffee getrunken. Davon ist ihm noch übel. Weiter ist es nichts.«
Ich wußte, daß ich log; aber die Klugheit verbot mir, die Wahrheit zu sagen. ----------
1) Advokat. 2)Heißes Fieber. 3) Kaltes Fieber. 4) Wechselfieber.
Fassung der KMG S. 129f
Etwa dreihundert Seiten später nun diese Stelle (Ich bringe sie ausführlich und bitte um Verständnis.). Kara Ben Halef hat den Scheik der Kalhuran und seine Frau vor den angeblichen persischen Soldaten gerettet.
Er berichtete sehr sachgemäß und bescheiden. Es fiel ihm nicht ein, seine Person hervorzuheben. Wenn es einer besonderen Betonung der Person bedurfte, so ließ er diesen Ton vielmehr nicht auf sich[,] sondern auf Tifl fallen. Freilich gelang es ihm nicht, in ruhigem Zusammenhange zu sprechen. Zwar ich hörte ihm zu, ohne ihn zu stören, aber seine Mutter unterbrach ihn mit ungezählten Fragen und Bemerkungen. Ihr Liebling hatte ja etwas sehr Wichtiges erlebt, etwas, was Hadschi Halef Omar, wenn er jetzt bei uns gewesen wäre, ganz unvermeidlich eine »Heldenthat« genannt hätte, und diese That mußte natürlich in mütterlichem Stolze von allen Seiten auf das sorgfältigste beleuchtet werden. Als er geendet hatte, sah sie mich an und fragte:
»Du hast gehört, oh Sihdi, was er, die Wonne meiner Augen, uns erzählte. Nun sag, was du an seinem Verhalten auszusetzen hast!«
»Nichts,« antwortete ich.
»Wirklich nichts?«
»Nein.«
»Glaubst du, daß sein Vater, mein guter Hadschi Halef Omar, derselben Meinung sein würde?«
»Ja.«
»Ich danke dir! Denn das ist eine Anerkennung, welche gar nicht größer sein könnte! Bedenke doch, wie jung er ist. Ihr beide aber seid erfahrene Männer. Wenn er so gehandelt hat, wie ihr selbst gehandelt hättet, und du sagst ihm das, so ist das ein Lob, zu dem ich nichts hinzuzufügen habe. Für die Sorge aber, welche die Mutter um ihn hegt, ist er doch wohl etwas zu verwegen gewesen. Man soll Mut und Tapferkeit besitzen; aber man braucht sich doch nicht so mit aller Gewalt der Gefahr auszusetzen.« »Hat er das gethan?«
»Ja.«
»Inwiefern?«
»Insofern, als er so offen gesagt hat, daß er der Gast der Dschamikun sei. Es wäre besser gewesen, wenn er das verschwiegen hätte. Dann hätten sie ihn nicht als ihren Gefangenen betrachten dürfen.«
»Es ist in Wirklichkeit ja gar nicht dazu gekommen, daß man ihn als solchen behandelt hat.«
»Aber man hätte es sehr leicht thun können! Man war ja berechtigt, ihn sofort zu töten, und da er keine anderen Waffen als sein Messer besaß, hätte er sich gar nicht dagegen wehren können.«
»So schnell geht das nicht!«
»In der Regel nicht. Jedem Blutgerichte pflegt eine Verhandlung vorauszugehen. Aber du weißt ja ebenso gut wie ich, daß es keine Regel giebt, die nicht ihre Ausnahmen hat. Du hast Kara gelobt, und ich stimme in dieses Lob so gern mit ein; dabei aber habe ich seine allzu große Kühnheit zu tadeln, ohne zu berücksichtigen, ob du dich an diesem Tadel beteiligst oder nicht. Er mußte unbedingt verschweigen, daß er jetzt zu den Dschamikun gehört.«
»Das hätte, wie er ja selbst ganz richtig gesagt hat, ihn zu Lügen führen müssen.«
»Lügen! Giebt es nicht Notlügen?«
»Für mich nicht.«
»Freilich giebt es die. Man wird durch die Not dazu getrieben, und darum sind sie erlaubt!«
»So sagt man. Aber grad daß es Notlügen gebe, das ist die größte aller Lügen. Ich nenne sie anders.«
»Wie?«
»Feigheitslügen! Es ist gar nicht schwer, sich bei jeder Lüge, die man macht, einen zwingenden Grund zu denken, den man dann als "Not" bezeichnet. Aber nicht diese größere oder geringere Not ist es, welche zu der Lüge zwingt, sondern die Feigheit, mit welcher man vor ihr die Flucht ergreift, verhindert den furchtsamen Menschen, die Wahrheit offen zu bekennen. Es giebt keine Not, und wäre es sogar der Tod, die so groß wäre, daß die Folgen der Notlüge nicht noch weit über sie hinauswachsen könnten. Das hat unser Kara trotz seiner Jugend eingesehen, und darum ist es zwar sehr tapfer, aber noch vielmehr klug von ihm, daß er sich so fest vorgenommen hat, niemals, und würde er auch noch so sehr zu ihr gedrängt, eine Lüge zu sagen.«
»Aber wenn er sich nun durch sie das Leben retten kann? Sein Leben gehört doch nicht ihm allein, sondern auch mir und seinem Vater und uns allen. Er hat alles, alles zu thun, um es sich und uns zu erhalten!«
»Giebt es irgend eine Lüge, von der er ganz bestimmt voraussagen könnte, daß sie es ihm retten werde?«
»Da fragst du mich zu viel, Effendi. Es ist ja bei jeder Lüge möglich, daß sie sofort erkannt und durchschaut wird.«
»Sehr richtig! Und wird sie durchschaut, so verschlimmert sie nur die Lage. Sie verzehnfacht das Mißtrauen und verstärkt die Gefahr, die man durch sie vermeiden will. Das ist aber noch das Geringste, was ich gegen sie zu sagen habe. Die Lüge, auch die Notlüge, ist eine Mörderin. Sie tötet die Selbstachtung. Und geradezu fürchterlich ist es, daß der Lügner gar nicht bemerkt, daß er diesen Selbstmord fortgesetzt an sich begeht. Grad er setzt gern und stets den höchsten Trumpf auf seine Ehre. In Wirklichkeit aber fühlt er gar wohl, daß sie ihm vollständig fehlt. Das macht ihn ungewiß und mißtrauisch gegen andere. Der Glaube an sie geht ihm verloren. Er verliert das Vertrauen zur Menschheit durch seine eigene Schuld, durch seine eigene Lügenhaftigkeit. Er hat das moralische Band, welches ihn mit allen vereinigte, freventlich zerrissen und muß an jedem Augenblicke gewärtig sein, als rechtsloser Mensch, als Ausgestoßener behandelt zu werden.«
»Wie du das sagst, o Effendi, klingt es schlimm!«
»Jawohl! Aber auch das ist noch das Schlimmste nicht. Das Allerschlimmste an der Lüge sind die fliegenden Samen.«
»Fliegende Samen? - Wie meinst du das?«
»Es giebt Pflanzen, welche, wenn sie ausgeblüht haben, in ihren Kronen hunderte von kleinen, leichten Körnchen erzeugen, die alle mit einem weißen, federfeinen Schirmchen versehen sind. Ein jeder Lufthauch, der so ein Schirmchen faßt, nimmt den daran befindlichen Samen mit sich fort, und da, wo er ihn fallen läßt, entsteht eine neue Pflanze. So ein Gewächs kann durch diese Art der Verbreitung in kurzer Zeit für eine ganze Gegend verderblich werden. Das Unkraut verbreitet sich so, daß es nur mit der größten Anstrengung wieder auszurotten ist.« »Und so thut es auch die Lüge?«
»Ja. Sie ist grad dann am gefährlichsten, wenn sie nicht entdeckt wird, wenn der Lügner seinen Zweck erreicht hat, wenn die sogenannte Notlüge die Not scheinbar beseitigt hat. Da gedeiht die Lüge in größter Heimlichkeit. Niemand sieht sie stehen. Niemand vernichtet sie. Nur der Lügner kennt sie. Er pflegt und hegt sie. Er sorgt dafür, daß kein Mensch sie bemerkt. Er sieht darauf und freut sich darüber, daß alle ihre Folgen und alle ihre Samen sich entwickeln. Sind diese Folgen reif, so bleiben sie nicht an Ort und Stelle; sie werden fortgetragen. Oft nicht weit, oft aber auch in große Ferne. Dort lassen sie sich nieder und beginnen zu wachsen und sich zu vermehren. Die Lüge treibt tausend neue Blüten, die alle, alle wieder Lügen sind, deren Samen dann weitergetragen werden, hierhin und dorthin, in Masse aber besonders auch wieder dorthin zurück, wo die erste stand und so gute Pflege fand. Der Same dieser ersten fiel auch in die Nähe. Er fand den besten Boden. Er wuchs und wuchs und brachte immer neue Pflanzen. Der Lügner hat, nachdem ihm die erste Lüge gelang, nicht wieder nachzusehen. Jetzt kommt er hin und sieht zu seinem Schreck, daß seine Unwahrheit zum Unkraut geworden ist, welches alles Gute überwuchert. Die Nachbarn werden laut, die ferner Wohnenden auch. Man fragt; man forscht, und man entdeckt die Herkunft dieses Uebels. Da ist es nun um ihn für alle Zeit geschehen. Verstehst du mich, Hanneh?«
»Beinahe,« antwortete sie.
»Ja, das Unkraut kann man freilich stehen sehen, die Lüge aber nicht, weil sie keinen Körper hat. Aber ihr Gift verpestet nicht bloß die Gedanken, sondern auch die Worte und Thaten, und diesen ist es deutlich anzumerken, daß sie bei Lug und Trug entstanden sind. Man nennt die Lüge einen häßlichen Schandfleck an dem Menschen; aber sie ist noch mehr: Sie ist die Mutter aller Uebel, die es giebt. Es giebt wohl keine Missethat, welche nicht durch die Lüge vorbereitet oder wenigstens begleitet wird. Hanneh, meine Freundin, ich sage dir, daß Kara recht gehandelt hat, als er die Wahrheit sagte. Oder glaubst du, daß man einer Lüge geglaubt hätte?«
»Wahrscheinlich nicht.«
»Ganz gewiß nicht! Er kam aus der Gegend der Dschamikun. Wäre er so feig gewesen, sie zu verleugnen, so wäre das Mißtrauen der Perser für ihn schädlicher geworden als die Wahrheit, die er ihnen so offen und ehrlich sagte. Sie nannten ihn dieses Mutes wegen »toll«. Sie hielten ihn für einen unbedachtsamen, leichtsinnigen Menschen, mit dem sie leichtes Spiel zu haben glaubten. Nur darum unterließen sie jene Vorsichtsmaßregeln, welche sie im andern Falle ganz gewiß getroffen hätten. Der Scheik der Kalhuran hat es vor allen Dingen der Wahrheitsliebe Karas zu verdanken, daß er gerettet worden ist. Eine Notlüge aber hätte diese Rettung höchst wahrscheinlich ganz unmöglich gemacht. Oder meinst du, hieran noch zweifeln zu müssen, wie du vorhin thatest?«
»Nein. Du hast mir ja bewiesen, daß ich unrecht hatte. O, Sihdi, ich bin keine Lügnerin; gewiß bin ich das nicht; aber so häßlich und so schädlich, wie du es jetzt beschrieben hast, habe ich mir die Lüge doch nie gedacht. Ich habe mich stets vor ihr gehütet, denn ich war zu stolz, mich mit ihr abzugeben; nun aber ist sie für mich ebenso wie für Kara, meinen Sohn, zur Unmöglichkeit [Unmöglichkeit] geworden. Man töte mich; aber lügen werde ich nie!
Fassung der KMG S. 436ff
========
Das ist eine massive Predigt gegen die Notlüge! Aber ist es nicht schiere Heuchelei?
Da misst doch einer ganz entschieden mit zweierlei Maß! Aus nachlässiger Vergesslichkeit oder mit dem Überlegenheitsgestus der Obermotzes zu einem Untermotz? Nach dem Motto: Quod licet Karo Ben Nemso, non licet Hadscho Karo Ben Halefo!
Gruß Fritz
Hallo!
Bisweilen weiß ich nicht, was ich von Kara Ben Nemsi halten soll; und von Karl May.
Da schreibt der eine und der andere erzählt dies:
»Was fehlt dem Scheik der Haddedihn?« erkundigte sich Nafar Ben Schuri. »Hat er vielleicht den Suchuna 2)?«
»Nein,« antwortete ich.
»Oder die Berdija 3)?«
»Nein.«
»Oder die Chumma mutallati 4)?«
»Auch diese nicht. Er hat gestern vergifteten Kaffee getrunken. Davon ist ihm noch übel. Weiter ist es nichts.«
Ich wußte, daß ich log; aber die Klugheit verbot mir, die Wahrheit zu sagen. ----------
1) Advokat. 2)Heißes Fieber. 3) Kaltes Fieber. 4) Wechselfieber.
Fassung der KMG S. 129f
Etwa dreihundert Seiten später nun diese Stelle (Ich bringe sie ausführlich und bitte um Verständnis.). Kara Ben Halef hat den Scheik der Kalhuran und seine Frau vor den angeblichen persischen Soldaten gerettet.
Er berichtete sehr sachgemäß und bescheiden. Es fiel ihm nicht ein, seine Person hervorzuheben. Wenn es einer besonderen Betonung der Person bedurfte, so ließ er diesen Ton vielmehr nicht auf sich[,] sondern auf Tifl fallen. Freilich gelang es ihm nicht, in ruhigem Zusammenhange zu sprechen. Zwar ich hörte ihm zu, ohne ihn zu stören, aber seine Mutter unterbrach ihn mit ungezählten Fragen und Bemerkungen. Ihr Liebling hatte ja etwas sehr Wichtiges erlebt, etwas, was Hadschi Halef Omar, wenn er jetzt bei uns gewesen wäre, ganz unvermeidlich eine »Heldenthat« genannt hätte, und diese That mußte natürlich in mütterlichem Stolze von allen Seiten auf das sorgfältigste beleuchtet werden. Als er geendet hatte, sah sie mich an und fragte:
»Du hast gehört, oh Sihdi, was er, die Wonne meiner Augen, uns erzählte. Nun sag, was du an seinem Verhalten auszusetzen hast!«
»Nichts,« antwortete ich.
»Wirklich nichts?«
»Nein.«
»Glaubst du, daß sein Vater, mein guter Hadschi Halef Omar, derselben Meinung sein würde?«
»Ja.«
»Ich danke dir! Denn das ist eine Anerkennung, welche gar nicht größer sein könnte! Bedenke doch, wie jung er ist. Ihr beide aber seid erfahrene Männer. Wenn er so gehandelt hat, wie ihr selbst gehandelt hättet, und du sagst ihm das, so ist das ein Lob, zu dem ich nichts hinzuzufügen habe. Für die Sorge aber, welche die Mutter um ihn hegt, ist er doch wohl etwas zu verwegen gewesen. Man soll Mut und Tapferkeit besitzen; aber man braucht sich doch nicht so mit aller Gewalt der Gefahr auszusetzen.« »Hat er das gethan?«
»Ja.«
»Inwiefern?«
»Insofern, als er so offen gesagt hat, daß er der Gast der Dschamikun sei. Es wäre besser gewesen, wenn er das verschwiegen hätte. Dann hätten sie ihn nicht als ihren Gefangenen betrachten dürfen.«
»Es ist in Wirklichkeit ja gar nicht dazu gekommen, daß man ihn als solchen behandelt hat.«
»Aber man hätte es sehr leicht thun können! Man war ja berechtigt, ihn sofort zu töten, und da er keine anderen Waffen als sein Messer besaß, hätte er sich gar nicht dagegen wehren können.«
»So schnell geht das nicht!«
»In der Regel nicht. Jedem Blutgerichte pflegt eine Verhandlung vorauszugehen. Aber du weißt ja ebenso gut wie ich, daß es keine Regel giebt, die nicht ihre Ausnahmen hat. Du hast Kara gelobt, und ich stimme in dieses Lob so gern mit ein; dabei aber habe ich seine allzu große Kühnheit zu tadeln, ohne zu berücksichtigen, ob du dich an diesem Tadel beteiligst oder nicht. Er mußte unbedingt verschweigen, daß er jetzt zu den Dschamikun gehört.«
»Das hätte, wie er ja selbst ganz richtig gesagt hat, ihn zu Lügen führen müssen.«
»Lügen! Giebt es nicht Notlügen?«
»Für mich nicht.«
»Freilich giebt es die. Man wird durch die Not dazu getrieben, und darum sind sie erlaubt!«
»So sagt man. Aber grad daß es Notlügen gebe, das ist die größte aller Lügen. Ich nenne sie anders.«
»Wie?«
»Feigheitslügen! Es ist gar nicht schwer, sich bei jeder Lüge, die man macht, einen zwingenden Grund zu denken, den man dann als "Not" bezeichnet. Aber nicht diese größere oder geringere Not ist es, welche zu der Lüge zwingt, sondern die Feigheit, mit welcher man vor ihr die Flucht ergreift, verhindert den furchtsamen Menschen, die Wahrheit offen zu bekennen. Es giebt keine Not, und wäre es sogar der Tod, die so groß wäre, daß die Folgen der Notlüge nicht noch weit über sie hinauswachsen könnten. Das hat unser Kara trotz seiner Jugend eingesehen, und darum ist es zwar sehr tapfer, aber noch vielmehr klug von ihm, daß er sich so fest vorgenommen hat, niemals, und würde er auch noch so sehr zu ihr gedrängt, eine Lüge zu sagen.«
»Aber wenn er sich nun durch sie das Leben retten kann? Sein Leben gehört doch nicht ihm allein, sondern auch mir und seinem Vater und uns allen. Er hat alles, alles zu thun, um es sich und uns zu erhalten!«
»Giebt es irgend eine Lüge, von der er ganz bestimmt voraussagen könnte, daß sie es ihm retten werde?«
»Da fragst du mich zu viel, Effendi. Es ist ja bei jeder Lüge möglich, daß sie sofort erkannt und durchschaut wird.«
»Sehr richtig! Und wird sie durchschaut, so verschlimmert sie nur die Lage. Sie verzehnfacht das Mißtrauen und verstärkt die Gefahr, die man durch sie vermeiden will. Das ist aber noch das Geringste, was ich gegen sie zu sagen habe. Die Lüge, auch die Notlüge, ist eine Mörderin. Sie tötet die Selbstachtung. Und geradezu fürchterlich ist es, daß der Lügner gar nicht bemerkt, daß er diesen Selbstmord fortgesetzt an sich begeht. Grad er setzt gern und stets den höchsten Trumpf auf seine Ehre. In Wirklichkeit aber fühlt er gar wohl, daß sie ihm vollständig fehlt. Das macht ihn ungewiß und mißtrauisch gegen andere. Der Glaube an sie geht ihm verloren. Er verliert das Vertrauen zur Menschheit durch seine eigene Schuld, durch seine eigene Lügenhaftigkeit. Er hat das moralische Band, welches ihn mit allen vereinigte, freventlich zerrissen und muß an jedem Augenblicke gewärtig sein, als rechtsloser Mensch, als Ausgestoßener behandelt zu werden.«
»Wie du das sagst, o Effendi, klingt es schlimm!«
»Jawohl! Aber auch das ist noch das Schlimmste nicht. Das Allerschlimmste an der Lüge sind die fliegenden Samen.«
»Fliegende Samen? - Wie meinst du das?«
»Es giebt Pflanzen, welche, wenn sie ausgeblüht haben, in ihren Kronen hunderte von kleinen, leichten Körnchen erzeugen, die alle mit einem weißen, federfeinen Schirmchen versehen sind. Ein jeder Lufthauch, der so ein Schirmchen faßt, nimmt den daran befindlichen Samen mit sich fort, und da, wo er ihn fallen läßt, entsteht eine neue Pflanze. So ein Gewächs kann durch diese Art der Verbreitung in kurzer Zeit für eine ganze Gegend verderblich werden. Das Unkraut verbreitet sich so, daß es nur mit der größten Anstrengung wieder auszurotten ist.« »Und so thut es auch die Lüge?«
»Ja. Sie ist grad dann am gefährlichsten, wenn sie nicht entdeckt wird, wenn der Lügner seinen Zweck erreicht hat, wenn die sogenannte Notlüge die Not scheinbar beseitigt hat. Da gedeiht die Lüge in größter Heimlichkeit. Niemand sieht sie stehen. Niemand vernichtet sie. Nur der Lügner kennt sie. Er pflegt und hegt sie. Er sorgt dafür, daß kein Mensch sie bemerkt. Er sieht darauf und freut sich darüber, daß alle ihre Folgen und alle ihre Samen sich entwickeln. Sind diese Folgen reif, so bleiben sie nicht an Ort und Stelle; sie werden fortgetragen. Oft nicht weit, oft aber auch in große Ferne. Dort lassen sie sich nieder und beginnen zu wachsen und sich zu vermehren. Die Lüge treibt tausend neue Blüten, die alle, alle wieder Lügen sind, deren Samen dann weitergetragen werden, hierhin und dorthin, in Masse aber besonders auch wieder dorthin zurück, wo die erste stand und so gute Pflege fand. Der Same dieser ersten fiel auch in die Nähe. Er fand den besten Boden. Er wuchs und wuchs und brachte immer neue Pflanzen. Der Lügner hat, nachdem ihm die erste Lüge gelang, nicht wieder nachzusehen. Jetzt kommt er hin und sieht zu seinem Schreck, daß seine Unwahrheit zum Unkraut geworden ist, welches alles Gute überwuchert. Die Nachbarn werden laut, die ferner Wohnenden auch. Man fragt; man forscht, und man entdeckt die Herkunft dieses Uebels. Da ist es nun um ihn für alle Zeit geschehen. Verstehst du mich, Hanneh?«
»Beinahe,« antwortete sie.
»Ja, das Unkraut kann man freilich stehen sehen, die Lüge aber nicht, weil sie keinen Körper hat. Aber ihr Gift verpestet nicht bloß die Gedanken, sondern auch die Worte und Thaten, und diesen ist es deutlich anzumerken, daß sie bei Lug und Trug entstanden sind. Man nennt die Lüge einen häßlichen Schandfleck an dem Menschen; aber sie ist noch mehr: Sie ist die Mutter aller Uebel, die es giebt. Es giebt wohl keine Missethat, welche nicht durch die Lüge vorbereitet oder wenigstens begleitet wird. Hanneh, meine Freundin, ich sage dir, daß Kara recht gehandelt hat, als er die Wahrheit sagte. Oder glaubst du, daß man einer Lüge geglaubt hätte?«
»Wahrscheinlich nicht.«
»Ganz gewiß nicht! Er kam aus der Gegend der Dschamikun. Wäre er so feig gewesen, sie zu verleugnen, so wäre das Mißtrauen der Perser für ihn schädlicher geworden als die Wahrheit, die er ihnen so offen und ehrlich sagte. Sie nannten ihn dieses Mutes wegen »toll«. Sie hielten ihn für einen unbedachtsamen, leichtsinnigen Menschen, mit dem sie leichtes Spiel zu haben glaubten. Nur darum unterließen sie jene Vorsichtsmaßregeln, welche sie im andern Falle ganz gewiß getroffen hätten. Der Scheik der Kalhuran hat es vor allen Dingen der Wahrheitsliebe Karas zu verdanken, daß er gerettet worden ist. Eine Notlüge aber hätte diese Rettung höchst wahrscheinlich ganz unmöglich gemacht. Oder meinst du, hieran noch zweifeln zu müssen, wie du vorhin thatest?«
»Nein. Du hast mir ja bewiesen, daß ich unrecht hatte. O, Sihdi, ich bin keine Lügnerin; gewiß bin ich das nicht; aber so häßlich und so schädlich, wie du es jetzt beschrieben hast, habe ich mir die Lüge doch nie gedacht. Ich habe mich stets vor ihr gehütet, denn ich war zu stolz, mich mit ihr abzugeben; nun aber ist sie für mich ebenso wie für Kara, meinen Sohn, zur Unmöglichkeit [Unmöglichkeit] geworden. Man töte mich; aber lügen werde ich nie!
Fassung der KMG S. 436ff
========
Das ist eine massive Predigt gegen die Notlüge! Aber ist es nicht schiere Heuchelei?
Da misst doch einer ganz entschieden mit zweierlei Maß! Aus nachlässiger Vergesslichkeit oder mit dem Überlegenheitsgestus der Obermotzes zu einem Untermotz? Nach dem Motto: Quod licet Karo Ben Nemso, non licet Hadscho Karo Ben Halefo!
Gruß Fritz