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"Ich bin Psycholog"

Verfasst: 17.2.2006, 23:51
von rodger
… sagte Karl May im Alter gern von sich selbst. Einer Anregung Ralf Harders folgend, denke ich, das Thema hat einen eigenen Thread verdient.

Beginnen wir mit einer kleinen Stelle aus dem „Verlornen Sohn“, wo sich Karl May schon früh als differenzierender, psychologisch denkender Kopf zeigt, und die mir gestern beim Wiederlesen auffiel:

»Also Du würdest mich lieber ermorden lassen, als daß Du zu dem Waldkönige gingst?«

»Ich würde Dich zu beschützen suchen, aber zu den Paschern würde ich auf keinen Fall gehen.«

»Es ist gut! Gute Nacht!«

Sie ging. Es war ihr gar nicht so ums Herz. Sie freute sich über seine Ehrlichkeit; aber ihre Selbstliebe hätte es gern gesehen, wenn er gesagt hätte, daß sie ihm höher als alle moralischen Bedenken stehe. Das mußte ihrer Meinung nach bestraft werden.

*

Überhaupt finde ich Karl May gerade im "Verlornen Sohn" oft von einer (für Kolportageverhältnisse) erstaunlichen Einfühlsamkeit und feinen Differenziertheit bei der Zeichnung einiger - nicht aller - Gestalten. Es ist äußerst reizvoll, diesen Roman - im Original ! - zu lesen.

Re: "Ich bin Psycholog"

Verfasst: 24.2.2006, 1:24
von Ralf Grosskurth
rodger hat geschrieben:… sagte Karl May im Alter gern von sich selbst. Einer Anregung Ralf Harders folgend, denke ich, das Thema hat einen eigenen Thread verdient.

Beginnen wir mit einer kleinen Stelle aus dem „Verlornen Sohn“, wo sich Karl May schon früh als differenzierender, psychologisch denkender Kopf zeigt, und die mir gestern beim Wiederlesen auffiel:

»Also Du würdest mich lieber ermorden lassen, als daß Du zu dem Waldkönige gingst?«

»Ich würde Dich zu beschützen suchen, aber zu den Paschern würde ich auf keinen Fall gehen.«

»Es ist gut! Gute Nacht!«

Sie ging. Es war ihr gar nicht so ums Herz. Sie freute sich über seine Ehrlichkeit; aber ihre Selbstliebe hätte es gern gesehen, wenn er gesagt hätte, daß sie ihm höher als alle moralischen Bedenken stehe. Das mußte ihrer Meinung nach bestraft werden.

*
[...]
Entschuldigung, aber wo steckt denn da der "Psycholog"?

Der letzte Abschnitt könnte von einem jeden geschrieben worden sein, der mit offenen Augen durch's Leben geht und schon eine zwischenmenschliche Beziehung erlebt (oder erlitten - je nach Blickwinkel) hat.
Der Psycholog hätte erkannt, warum die Selbstliebe sie zu ihrer Betrachtung führte.
In der zitierten Stelle jedoch hat lediglich ein "Betrachter" eine Zustandsschilderung abgegeben.

Verfasst: 24.2.2006, 9:41
von rodger
Nun, man, womit ich jetzt May meine, muß ja nicht alles aussprechen, vorkauen, breittreten, auch im Unausgesprochenen, Angedeuteten, indirekt mitgeteilten kann sich der „Psycholog“ zeigen.

Hier geht es darum, dass ein Mechanismus stärker ist als der andere, nämlich der Mechanismus der Selbstliebe den Mechanismus der Moral in den Hintergrund drängt.

Ganz besonders interessant wird es dadurch, dass sich Karl May gerade den Mechanismus der Moral ausgesucht hat, der hier versagt, und als Person, der das geschieht, auch noch einen seiner „guten“ Menschen. Er hätte ja auch, z.B., zeigen können, dass der Mechanismus der Großzügigkeit zugunsten dessen der Selbstliebe in den Hintergrund tritt, das wäre harmloser gewesen. Oder als Figur, wo sich dieses Mechanismen-Spiel zeigt, sich einen zweifelhafteren Charakter aussuchen können. Er hat aber ganz bewusst einen seiner „guten“ Menschen an der eigenen Selbstliebe auflaufen lassen und gezeigt, wie schnell es aus sein kann mit der Moral und der „Gutheit“.
Der letzte Abschnitt könnte von einem jeden geschrieben worden sein, …
Das wäre schön (oder auch nicht …) wenn alle so bewusst wären. Dem ist aber nicht so. Gehen Sie mal durch die Straßen und gucken sich die Leute an. Da ist der Neanderthaler nicht weit.

Verfasst: 24.2.2006, 10:49
von Ralf Harder
Hier ein paar May-Zitate:
»Ich habe in Regensburg gehört, daß Sie ein sehr geschickter Ringer und Fechter sind, aber für einen Raufbold halte ich Sie nicht. Sie haben sich vielmehr heut geprügelt als - - Lehrer und als Psycholog.«

»Sie haben Recht. Wir sind heut von einander geschieden - für immer. Wir können uns niemals wiederfinden; denn eine psychologische Unmöglichkeit ist eben auch eine Unmöglichkeit.«

»Als Stylübung einer jungen Dame ist es psychologisch sogar interessant; aber als Gedicht, welches veröffentlicht werden soll, ist es geradezu unmöglich!«

Dort hatte der Graf oft gesessen und sich im Stillen dadurch unterhalten, daß er an den so verschiedenartigen Gesichtern der Gäste psychologische Studien machte.

Er war Psycholog und wußte, daß die jetzt erwartete Antwort von großer Bedeutung sein werde.

»Wir sehen uns heute erst zum dritten Male. Sie müßten ein ausgezeichneter Psycholog sein, wenn Sie mich richtig beurtheilten!«

»So werde ich Ihnen sogleich Gelegenheit geben, meinen psychologischen Scharfblick kennen zu lernen: Sie haben außerordentlich werthvolle seelische und körperliche Anlagen für die Liebe.«
Diese Zitate stammen aus den Münchmeyer-Romanen.

Ralf Harder

Verfasst: 24.2.2006, 10:54
von JennyFlorstedt
Hmm... beweist für mich erstmal nur, dass Karl May das Wort kannte. Worauf wollen Sie denn mit den Zitaten hinaus?

ta

Verfasst: 24.2.2006, 10:59
von rodger
Danke, lieber Herr Harder, für die vortrefflich ausgesuchten Beispiele.

Anderen sei einmal mehr gesagt:

„Wenn ihr’s nicht fühlt, ihr werdet’s nicht erjagen“

(schon wieder aus Goethens „Faust“)

Verfasst: 24.2.2006, 11:07
von Ralf Harder
JennyFlorstedt hat geschrieben:Hmm... beweist für mich erstmal nur, dass Karl May das Wort kannte. Worauf wollen Sie denn mit den Zitaten hinaus?

ta
Das ist zunächst einmal eine Diskussionsgrundlage. Immerhin spielt „Psychologie“ bei May nicht nur im Alterswerk eine Rolle. „Psycholog“ und „Psychologie“ sind Begriffe, die nicht selten bei May auftauchen. Und das muss einen Grund haben …

Ralf Harder

Verfasst: 24.2.2006, 11:17
von JennyFlorstedt
Das stimmt.
Es ist auch klar, dass er sich für einen großen Psychologen hielt. das taucht ja nicht nur in den autobiografischen Schriften auf.
Ich bin nur nicht überzeugt, ob er wirklich ein so großer Psychologe war, wie er von sich glaubte. Denn in der Praxis hat er viele Leute (und damit Situationen) völlig falsch eingeschätzt ODER konnte seine vielleicht richtige Einschätzung nicht in zielgerichtete Aktivität umsetzen. Er war - meienr Meinung nach - viel zu egozentrisch, um ein wirklich guter Psychologe zu sein. Auf dem Gebiet der Selbsterkenntnis hat er einiges geleistet - aber Psychologie zeigt sich doch nicht nur in der Reflektion vergangenener Ereignisse.

Mit besten und friedlichen Grüßen

ta

Verfasst: 25.2.2006, 9:39
von Hermann Wohlgschaft
Ob Karl May „zu egozentrisch“ (Jenny Florstedt) war, ist eine Frage; ob er in der Theorie ein großer Psychologe war, ist eine andere Frage; ob er „in der Praxis viele Leute (und damit Situationen) völlig falsch eingeschätzt“ (Florstedt) hat, ist nochmals eine andere Frage. Das alles sind ganz unterschiedliche Fragen, die m. E. nur wenig miteinander zu tun haben.

Lassen wir die Mutmaßungen und Spekulationen. Fest steht immerhin: May hatte beachtliche Kenntnisse in der zeitgenössischen Psychologie, so kannte er z. B. die tiefenpsychologische Lehre von der Macht des Unbewußten. Diese Kenntnisse finden sich wieder im literarischen Werk, z. B. in ‚Ardistan und Dschinnistan‘.

Mays Psychologie war allerdings primär eine Religionspsychologie. Der angesehene Psychiater Paul Adolf Näcke hatte Mays 'Und Friede auf Erden!‘ in einer Fachzeitschrift – m. E. zu Recht – als „religionspsychologisch hochbedeutsamen Roman“ bezeichnet.

Außerdem meine ich, daß May im Alterswerk in einer ungewöhnlichen – spirituellen – Psychologie die Befreiungsimpulse des Enneagramms in großartiger Weise geschildert hat. – Vgl. dazu meine letzten Einträge im Thread ‚Wohlgschaft-Biographie‘.

Verfasst: 25.2.2006, 10:19
von rodger
Ich denke mal, das eine schließt das andere nicht aus, und beides wird zutreffen, zum einen dürfte er in der Tat sehr egozentrisch gewesen sein und viele Leute und Situationen völlig falsch eingeschätzt haben (die „Chronik“ spricht in dieser Hinsicht sprichwörtlich Bände, oder denken wir z.B. an seine offensichtliche langjährige Fehleinschätzung des Anwalts Bernstein), zum anderen hatte er durchaus beträchtliche psychologische Fähigkeiten (ich sage bewusst Fähigkeiten, nicht Kenntnisse, bei Leuten wie ihm läuft sehr viel über Naturbegabung und Intuition).

Daß hochbegabte, eigentlich einsichtsvolle Menschen sich gelegentlich völlig vertuen und (wenn man denn so will) unverständlich töricht verhalten, ist ja nichts neues, denken wir z.B. an Klaus Kinski, Helmut Qualtinger oder Albert Einstein. Oder Richard Wagner, der noch zu Parsifal-Zeiten den Ballettmädels hinterherscharwenzelte, was so gar nichts „Erlösung dem Erlöser“-haftiges an sich hatte.

:wink: