Ein wohlgemeintes Wort

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Thomas Schwettmann

Ein wohlgemeintes Wort

Beitrag von Thomas Schwettmann »

Das Erscheinen des Essays 'Ein wohlgemeintes Wort' im Jahre 1883 ist ein wenig ungewöhnlich, allerdings nicht wegen des Inhaltes als vielmehr wegen des Zeitpunktes. Wetterte May hier nicht genau gegen jene Art von Schundliteratur, die er gerade selber in Form des "Waldröschens" niederschrieb - wenngleich man zugeben muß, daß er sich dabei seinen im Aufsatz formulierten Anforderungen an einen Roman - Seine Beispiele des Guten müssen als Vorbilder, und seine Beispiele des Bösen zu Abschreckung dienen - durchaus verpflichtet fühlte. Dennoch stellt sich die Frage, ob May den Artikel wirklich erst 1883 formuliert hat, auch da er ansonsten in jenen Jahren keine weiteren Aufsätze schrieb.

Und so spekulierte auch schon Jürgen Wehnert, Mitherausgeber des'Ein wohlgemeintes Wort'-Reprints, in der Fußnote 8 seines Artikel Karl May, "Schacht und Hütte" und der "Neue deutsche Reichsbote"[/u[ (KMG-Mitteilungen Nr. 105, S. 56) über eine frühere Entstehungszeit dieses Essays:

Im übrigen mochte May mit der Überlassung des gesamten Exemplars die Hoffnung verbunden haben, daß Hanzsch veileicht auch den einen oder anderen seiner belehrenden Aufsätze - und dies nun ganz legal - für den NdR [= Neuer deutscher Reichsbote] übernahm. Jedenfalls akzeptierte ja Hanzsch den in seiner pädagogisch-moralischen Haltung sehr ähnlichen Aufsatz "Ein wohlgemeintes Wort". In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, daß sich in SH [= Schacht und Hütte], S. 312. eine zweifelos von May stammende Briefkastennotiz findet, die einen zentraten Gedanken dieses Aufsatzes vorwegnimmt und die Vermutung zuläßt. daß ,Ein wohlgemeintes Wort' vielleicht schon in seiner Redakteurszeit bei Münchmeyer konzipiert worden ist: "Herrn O.F. in Erfurt. Der Betreffende hat aus den vielen Ritter-, Räuber- und Schauderromanen, welche seine einzige Lektüre bildeten, eine vollständig falsche Anschauung gesogen- (...)." Diese Formulierungen finden sich in "Ein wohlgemeintes Wort" fast wörtlich wieder (s. den Reprint S. 129 und I31): May spricht vom "Genre der Ritter-, Räuber- (...) und Schauderromane", für dessen Leser gilt: "Er hat falsche Lebensanschauungen eingesogen" (bei May gesperrt). Falls hieraus eine frühere Entstehungzeit des Aufsatzes zu erschließen ist, wäre der bisher nur mühsam zu erklärende Befund, daß Mays "Wohlgemeintes Wnrt" fast zeitgleich mit dem Beginn seiner Arbeit anm ,,Waldröschen~ publiziert wurde (September 1882), in recht unspektakulärer Weise als zufällige Koinzidenz zu interpretieren.

Man kann diese These einer frühen Entstehung des Essays noch mit weiteren Textvergleichen füttern. Denn May hat bereits auch schon in 'Schacht und Hütte' den Begriff des 'Wohlgemeinten' verwendet. Zum einen gar schon in der ersten Ausgabe im 'Allerlei' unter der Überschrift der Wohlgemeinten Winke für Eltern sowie zweitens im 'Briefkasten' der Nr. 49, wo er sogar explizit den Begriff mit den 'Worten' verbindet: Der Schreiber Dieses ist es selbst, nach dem Sie sich erkundigen. Möchten die herzlichen und wohlgemeinten Worte, welcher er außer seinen 'Geographischen Predigten' besonders für die ersten Nummern von 'Schacht und Hütte' schrieb, Verständniß und - Beherzigung finden. (...)

Ich beschrieb bereits einmal in einem früheren Beitrag über das alten Forums, daß sich die Aufsätze in 'Schacht und Hütte' stilistisch markant fortentwickelten, sodaß gewisse Merkmale wie die Voranstellung eines Mottos oder der Einschub längerer Zitate, von Gedichten oder Statistiken charakteristisch für den Zeitpunkt der Niederschrift sein dürfte, woraus u.a. zu folgern sei, daß die Aufsätze tatsächlich in etwa der Reihenfolge niedergeschrieben wurden, in der sie auch abgedruckt wurden, was u.a.bedeuten würde, daß die 'Geographischen Predigten' sowie die parallelen Essays aus 'Das Buch der Liebe' erst nach den Aufsätzen der ersten 'Schacht und Hütte'-Nummern entstanden sein sollten. Ferner erlaubt diese Chronologie nach stilistischen Merkmalen auch eine exakte Bestimmung der Entstehungszeit von 'Ein Prairiebrand', die ganz unabhängig von der inhaltlichen Analyse von Jürgen Wehnert ist, welche diesen Kamerad-Text überzeugend ebenfalls als Zwischentext beider Mappe-Erzählungen identifizierte.
[vgl.:http://www.karl-may-stiftung.de/forum/messages/860.htm ]

Natürlich sind solche doch recht mechanisch anmutende chronologischen Einordnungen nach stilistischen Merkmalen für die Beurteilung literarischer Texte nur bedingt tauglich, da ein Autor natürlich prinzipiell einen ziemlich großen Freiheitsgrad bezüglich dessen, was er schreiben will, hat. Deshalb muß man natürlich betonen, daß diese Methode nur Aussicht auf Erkenntnisgeinn hat, wenn man wie bei den frühen Texten Mays, eine Tendenz zu einer derartigen gleichsam evolutionären Textentwicklung beobachten kann. Die Ursache dazu könnte im enormen Schreibpensum liegen, welches eine stärkere Reflektion, Überarbeitung und Selektion des Geschriebenen einschränkte, und so einen nahezu täglichen Output erzeugte.

Dies führt zu der Frage, ob es nicht auch stilistische Merkmale von 'Ein wohlgemeintes Wort' geben könnte, die eine Hypothese von einiger Wahrscheinlichkeit bezüglich einer genaueren Datierung zulassen könnten. Wenn wir uns den Text daraufhin ansehen, fällt abgesehen von der überproportionalen Länge des Aufsatzes zweierlei auf: Da ist zum einen die Einleitung mit den Scheinzitaten verschiedener Berufsgruppenvertreter wie den Prediger, den Philosophen, dem Pädagogen sowie der Strafanstaltsbeamte. Solcherlei Scheinzitate - also Sätze in Anführungszeichen - finden sich, gleichwohl in weniger geballter Form, anfangs einiger der Essays aus 'Schacht und Hütte' [in 'Verteildigung eines Vielverkannten', 'Deutsche
Sprichwörter', 'Haus- und Familienreden' & 'Ein Lichtspender'], nur bei den acht Kapiteln der 'Geographischen Predigten'
fehlen diese (es gibt nur den längeren Monolag anfang des 1. Kapitels), zumal dort das vorangestellte Motto die Funktion
eines solchen Aufhängers übernommen hat.

Das zweite, weitaus ungewöhnlichere Merkmal ist die persönliche Ansprache durch das Ich des Autors in 'Ein wohlgemeintes Wort'. Solcherlei ist in der Tat nun kaum in den Aufsätzen in 'Schacht und Hütte' anzutreffen. Genauer, nur in 'Schätze und Schatzgräber' (3 Fundstellen) und in 'Verteildigung eines Vielverkannten' (1 Fundstelle), beide in der Nr. 1, sowie am Anfang von 'Ein Königlicher Proletarier' in der Nr. 4 (1 Fundstelle). In allen anderen Aufsätzen gibt es ein 'Ich' nur in Zitaten bzw. in 'Ehrlich wehrt am längsten' als das 'eigene Ich'. Zusammen mit den 'Wohlgemeinten Winken' in Nr. 1 läßt dies den Verdacht aufkommen, daß 'Ein wohlgemeintes Wort' schon Ende Sommer 1875, also spätestens parallel zu den ersten Nummern von 'Schacht und Hütte' entstanden sein könnte.

Tatsächlich ließe sich aus dieser Überlegung heraus eine interessante Hypothese bilden, die erklären könnte, weshalb dieser Essay wie auch 'ein Prairiebrand' bereits zu diesem Zeitpunkt entstanden war, aber nicht veröffentlicht wurde. Bekanntlich schrieb May, daß er mit fünf Probenummern auf Abonenntenwerbetour zu den großen Zentren der Eisen- und Stahlindustrie gereist sei, daß jedoch Münchmeyer während der Abwesenheit seines Redakteurs auf Anraten seiner Frau das Blatt veränderte, indem er auf den jeweils ersten vier Seiten von 'Schacht und Hütte' den Roman 'Geheime Gewalten' unterbrachte: Er erklärte mir, daß die "Pauline" die von mir ausgearbeiteten fünf Nummern durchgelesen und viel zu troccken und gelehrt gefunden habe. (...) Darum hatte man während meiner Abwesenheit meine Nummern umgeändert oder vielmehr, um den richtigen Ausdruck zu gebrauchen, gefälscht und ohne mein Wissen einen Roman hereingenommen, der mit "Geheime Gewalten" betitelt war.

Was aber war dann dort ursprünglich zu lesen? Könnte es nicht sein, daß 'Ein wohlgemeintes Wort' sowie 'Ein Prairiebrand' genau dieser Manipulation zum Opfer fielen? Dann wäre die Entfernung des Essays über die Schundliteratur durch Münchmeyer freilich nicht nur wegen des Mangels an Unterhaltung in 'Schacht und Hütte' verständlich, sondern gerade auch wegen des Inhaltes, der sich ja recht offen gegen einen Großteil von Münchmeyers Verlagsproduktion wandte.
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