Sonnenscheinchen - Doch ein Erstlingswerk?

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Thomas Schwettmann

Sonnenscheinchen - Doch ein Erstlingswerk?

Beitrag von Thomas Schwettmann »

Der Beginn von Karl Mays schriftstellerische Laufbahn ist heute noch immer in Dunkel gehült. Zwar behauptete May wiederholt - z.B. in der Selbstbiographie 'Mein Leben und Streben' sowie der Verteildigungsschrift 'Auch über dem Wasser' (1910), daß er seine ersten Humoresken und Dorfgeschichten bereits im Jahre 1863 geschrieben habe, nachweisen ließen sich aus dieser Zeit bislang allerdings nur Kompositionen und die dazugehörigen Reime (siehe KMV-Sonderband: Karl May und die Musik). Andererseits hat Karl May jedoch auch deutliche Fingerzeige darauf gegeben, welche seiner Erzählungen zuerst erschienen sein sollen.

Im Vorwort zu dem 1903 erschienenden Band 'Erzgebirgische Dorfgeschichten, Karl Mays Erstlingswerke' werden diese Geschichten allerdings noch lediglich auf vor nun fast dreissig Jahren datiert, was wenig später als 1873 bedeuten würde und mit der bislang sicheren Erkenntnis, daß May spätensten 1874 mit der Niederschrift von längeren Erzählungen begann, durchaus übereinstimmt. Nun gibt es in diesem Sammelband aber mit 'Sonnenscheinchen' und 'Das Geldmännle' zwei Geschichten, die man gemeinhin als Kuckuckseier ansieht, da sich in diesen beiden Fällen keine Frühabdrucke finden lassen und zudem speziell 'Das Geldmänle' eine für das Spätwerk typische symbolhafte Verschlüsselungsebene besitzt, die doch eindeutig auf eine Entstehungszeit nach der Jahrhundertwende verweisen.

Dennoch verweist Karl May in dem seinerzeit ungedruckten Manuskript 'Die Schundliteratur und der Früchtehunger' (1907/08, in KMG-Jahrbuch 1983 sowie GW 85) gerade auf diese beiden Erzählungen, wobei diese sogar schon anfangs der 60er Jahre entstanden sein sollen. So schrieb er unter dem Namen seines Freundes Plöhn über sich in dem besagten Artikel: Vor nun fast fünzig Jahren begann er seine Erzgebirgischen Dorfgeschichten mit dem unvergleichlichen 'Sonnenscheinchen', dem bald das ebenso herzige 'Karlinchen' folgte. Im Falle der 'denkende' Ziege 'Karlinchen', die ihren Auftritt in 'Das Geldmännle' hat, wissen wir aber, daß diese Erzählung gewiß erst für die Buchausgabe geschrieben worden ist. Wäre es aber nicht möglich, daß ein tatsächlich 'Karlinchen' betitelter kleiner Ausschnitt der Erzählung bereits früher entstanden war? Könnte nicht etwa das nächtliche Abenteuer im 4. Kapitels - in der GW-Ausgabe mit 'Spuk' betitelt - einst als eigenständige kurze humorvolle Skizze niedergeschrieben worden sein?

Die Anklänge an den Namen der Haushälterin Krakeline in 'Ziege und Bock' sowie die schon in diesem Titel angesprochene Ziegengeschichte scheinen offensichtlich, fraglich ist nur, welche Ziegengeschichte zuerst entstand. Interessant ist weiterhin, daß in der Titelsammlung 'Repertorium' (ca. 1867/68) die Einträge 56.) Karlchen - diese Verniedlichungsform von Karl wurde von May in seinem Werk ansonsten freilich nicht mehr benutzt - sowie unter der Überschrift 79.) Im alten Nest der Untertitel 55.) Mutterschwein und Ziegenbock zu finden sind. Anstelle einer weiblichen Ziege 'Karlinchen' sind also ein männlicher 'Ziegenbock' sowie die männliche Namensvariante 'Karlchen' damals schon in Mays Ideenrepertoire präsent gewesen, unentscheidbar ist natürlich auch hier die zeitliche Priorität.

Substanzieller als die Überlegung, ob 'Das Geldmänle' auf einer kurzen 'Karlinchen'-Skizze aufbauen könnte, ist jedoch die Frage, ob die 'Sonnenscheinchen'-Geschichte bzw. eine Urfassung derselben bereits 1863 verfaßt wurde, da man in diesem Falle nicht nur einen abgegrenzten kleinen Auszug, sondern die gesamte Geschichte in eine Analyse einbeziehen muß. Denn eine Herauslösung eines Handlungsteiles als eigenständige Teilerzählung ist hier nicht möglich, sodaß nur die Möglichkeit zu erwägen wäre, daß Karl May - sollte 'Sonnenscheinchen' tatsächlich früher entstanden sein - dieses Frühwerk für die Buchausgabe sprachlich, sowie in einzelnen Punken möglicherweise auch inhaltlich, überarbeitet haben könnte. Für eine Überarbeitung oder eben doch eine vollständige Erstniederschrift des Textes spricht zunächst einmal, daß das Manuskript der Erzählung vollständig im Archiv des KMV erhalten ist. Laut Wollschläger nahm [Fischer] arglos an, sie ihm übersandten Manuskripte seien nur Abschriften früher Drucke (KMG-Jahrbuch 1979, S. 129).

Für die allgemein akzeptierte 1903-Datierung ist das Manuskript zusammen mit dem kurzen Verweis im Vorwort und der symbolische Deutungsmöglichkeit ausschlaggebend, wobei letzteres meineserachtens freilich nicht auf so sicheren Füßen steht, wie bei anderen, doch zumeist mit deutlicheren Spiegelungen versehenen Alterstexten. Denn Karl Mays Methode, seine unterschiedlichen Ich-Charakterzüge sowie deren wechselnde Dominaz in unterschiedlichen Lebensphasen, in eher eindimensionale Charaktere aufzuspalten und die gleiche Methodik auch auf andere Menschen anzuwenden, führt zu einer schablonenhaften Typisierung der Figuren, sodaß bei der Interpretation doch die Gefahr bestehen kann, in die Irre zu gehen. Da viele Charaktere Mays schon seit den Anfängen seiner Schriftstellerlaufbahn einen deutlichen Hang zur Eindimensionalität haben, also meist durch einen hauptsächlichen Wesenszug bestimmt sind, lassen sich infolgedessen leicht solche Klischees wie der junge renomiersüchtige May, der mittelalte ungefestigte May oder der in sich ruhende Alters-May (der ehedem nur eine Fiktion ist) leicht auf entsprechend vorgezeichnete Figuren projektieren.

Insofern erscheint mir die symbolische Interpretation Hartmut Vollmers im KM-Jahrbuch 1985 (-> S. 160) wie auch im KM-Handbuch nicht ganz überzeugend. Natürlich ist der Major wie sein Sohn etwa eine von May assozierte Figur, doch würde dies natürlich auch bei jedem anderen früheren Niederschriftszeitpunkt zutreffen. Denkbar ist etwa eine idealisierte, humoristische Umschreibung der in 'Mein Leben und Streben' beschriebenen Einexerzitionen, die Vater May an seinem Sohn übte, um einen höheren Rang in der Heimatkompanie zu erlangen.

Durchaus komplex gerät bei Vollmer zudem die Deutung des Pachtbauern, der einerseits als Alter Ego Mays, andererseits aber auch als Portrait Fischers erscheinen soll. In diesem Bild ist jedoch der Charakter des verstorbenen alten Pachtbauern, der als vorbildlich geschildert wird, nicht zu integrieren, denn wenn auch der alte Münchmeyer in Mays Werteskala ein wenig höher als seine Wittwe stand, als vorbildlich war seine Verwaltung der von May 'gepachteten' Texte aus Sicht des Autors wohl kaum zu nennen. Auch ließe sich die Ursache für den Zwist, nämlich das Buhlen des Pachtbauern um Paule, zwar mit einiger Mühe als Versuch Fischers, die Kolportageromane May zu 'bekommen', interpretieren, doch ließe sich bei solcher Betrachtungsweise eine adequate Symbolisierung einer real ja bereits erfolgte Aneignung nicht erkennen. Auch ist die Auflösung des Konfliktes, nachdem sich alles in eitel 'Sonnenschein' auflöst, kein Bezug zur Realität erkennbar, der eine derartige Metapher rechtfertigen könnte. Alles in allem betrachtet ist bei dieser doch recht einfach gestrickten Geschichte eine ziemlich komplexe Entschlüsselung mit vielschichtigen Überlagerungseffekten nötig, um einigermaßen nachvollziehbar den Fischer-Konflikt als in den Kontext der Erzählung verarbeitet zu interpretieren.
Zuletzt geändert von Thomas Schwettmann am 9.1.2005, 17:23, insgesamt 1-mal geändert.
Thomas Schwettmann

... Ich schreibe aber schon seit 1863.

Beitrag von Thomas Schwettmann »

Aber vor allen symbolischen Deutungsversuchen erscheint es mir zunächst wesentlicher, die Struktur der Erzählung zu untersuchen, wobei schnell klar wird, daß hier entweder eine frühe Geschichte oder aber eine speziell auf 'Erstlingswerk' getrimmte Erzählung vorliegt. Dies fängt etwa mit der Auswahl der Namen der Figuren an, wobei - ganz charakteristisch für May frühste, kurze Dorfgeschichten - kaum Nachnamen (Felber), wenige Vornamen (Fritz, Paule), dafür umso mehr Funktionsnamen (Major, Frau Major, Majörle, Sonnenschein, Sonnenscheinchen) verwandt wurden, während bei den späteren und längeren Dorfgeschichten in der Regel sowohl Nach- und Vornamen als auch Funktionsnamen der jeweiligen Hauptpersonen angegeben sind. Dazu kommt noch, daß die Auswahl der Eigennamen Fritz & Paule durchaus typisch für das Frühwerk sind (Man mag zwar vordergründig an Fritz und Paul(in)e Münchmeyer denken und dieses als weiteres Indiz einer späten Niederschrift ansehen, doch einerseits würde eine Identifikation der Felbers mit den Münchmeyers keinen rechten Sinn ergeben, andererseits beruht die häufige Verwendung von Fritz doch eher auf den zweiten Vornamen Friedrich von Karl May, ähnliches könnte für Paul(in)e gelten, da die fünf Jahre jüngere Schwester Mays Ernistine Pauline hieß).

Die folgende Übersicht zeigt die typische Mischung aus Funktions- und wenigen Eigennamen in den frühen Werken (Bekanntermaßen ist dabei Mays Autorenschaft an dem hier gleichfalls gelisteten 'Gewissen' nicht bewiesen, aus Gründen, die ich bereits im alten Forum lang und breit darlegte, halte ich es aber für durchaus wahrscheinlich, daß May diesen Text gleichwohl auch verfaßt hat):

Sonnenscheinchen
Major - Majörle - Sonnenscheinchen - Fritz Felber - Paule - Pachtbauer - Lehrer

Des Kindes Ruf
Paul Fährmann - Eduard - Kurt Hilbert - Minna = Lindenbäuerin - Lindenbauer - Lehrer

Das Gewissen / Der Waldbauer
Waldbauer - Wiesenbauer - Förster - Fritz Grunert - Ebert - Elias - Löwenwirt - Karo (Hund)

Der Samiel
Wiesenbauer - Wiesenbäuerin = Lisbeth - Blößenförster - Hermann - Pauline - Samiel - Wirt

Im Sonnenthau
Wiesenbauer - Wiesenbäuerin - Heiner - Oppermann - Pauline Schubert - Anna Schubert - Thorbauer - Grenzmeister

Im Seegerkasten
Lautenschläger - Fritz Meier - Christel

Im Wollteufel
Fritz Hillmann - August Ehregott Franke - Johanna Wellner - Röschen - Rosenbaum - Grabenmacher - Karo (Hund)

Hingegen ist die Verwendung des Nachnamens 'Felber' in 'Sonnenscheinchen' einzigartig, diese Benamsung wird in der Sekundärliteratur einhellig als durch die Bekanntschft Mays mit - wenn auch nicht im Charakter, sondern lediglich im Namen - Elisabeth und Carl Felber angeregt verstanden. Und da diese Bekanntschaft erst seit 1894 bestand, ergäbe sich hier ein signifikantes Argument dafür, daß die Geschichte nicht früher geschrieben worden sein konnte. Neben dem berühmt-berüchtigten Zufall kann man diese Schlußfolgerung aber mit zweierlei Überlegungen relativieren: Zu einem könnte man 'Felber' als assoziative Verkürzung von 'Feldbauer' (vgl. 'Der Waldkönig') begreifen, welches wiederum ein für Felber durchaus angemessene Funktionsname sein würde, zum anderen wird gleich zu Beginn der Geschichte noch vor Nennung des Familiennamens 'Felber' in der Beschreibung des Majors ein 'Felbenhut' erwähnt, wodurch gleichfalls im Schreibprozeß eine assoziative Namensgebung abgeleitet worden sein könnte.

Ferner läßt sich zeigen, daß einzelne spezielle Begriffe schon in Mays Frühzeit verwandt wurden, so etwa auch der Pachthof. Dieser findet sich zwar in keiner weiteren Dorfgeschichte, wohl aber in den 'Geographischen Predigten, 8. Haus und Hof': Daß hier der Hof von größerer Bedeutung ist, beweisen die Bezeichnungen Pachthof, Bauernhof etc. . Dies scheint freilich ein äußerst schwaches Indiz zu sein ist. Aber der nachfolgende Nebensatz enthält eine weitere interessante Aufzählung: (...) und sehr oft wird die ganze Besitzung nach dem Namen ihres Inhabers Ruppertshof, Uhligshof, Petershof oder in Beziehung auf sonstige Umstände Teichhof, Berghof, Lindenhof, Tannenhof etc. genannt. . Tatsächlich benutzte May fast alle genannten Nicht-Eigennamen-Höfe in seinen Geschichten, doch auffälligerweise jeweils nur in einer einzigen Geschichte: Teichhof (Der Giftheiner), Lindenhof (Des Kindes Ruf), Tannenhof (Teufelsbauer). Dies gilt auch für einige weitere, in dem Zitat nicht genannten Höfe: Bachhof, Feldhof (Waldkönig), Teufelshof, Wiesenhof (Teufelsbauer), Dukatenhof (Dukatenhof), Kaiserhof, Franzosenhof (Kaiserbauer), usw. Insofern ist also das Fehlen eines 'Pachthofes' in den anderen Dorfgeschichten - lediglich im 'Herrgottsengel' ist von einem 'Hof in Pacht' die Rede - kein atypisches sondern eher ein typisches Merkmal, offensichtlich wollte May einen einmal benutzten 'Hof'-Namen nicht nochmals wiederverwenden.

Ein anderer solcher Begriff ist die Botenfrau (die Tätigkeit der Großmutter). Diesen kann sich Vollmer in seiner Jahrbuch-Analyse als Hinweis auf Emma vorstellen. So schreibt er in Anmerkung 45 seiner Interpretation: Emmas Tätigkeit konnte man, als sie May 1877 nach Dresden folgte und »ihren Lebensunterhalt im Haus der Pastorswitwe durch Arbeit in Küche und Haushalt« verdiente (Fritz Maschke: Karl May und Emma Pollmer [...], S. 11f.), durchaus mit der einer »Botenfrau« vergleichen. Allerdings liest man bei May bereits in seinem 'Repertorium' (ca. 1867/68) unter Nr. 71.) Frauencharaktere. den Unterpunkt 3.) Botenfrau. Eine spätere Inspiration durch Emma ist also keinesfalls notwendig gewesen, zumal im 'Herrgottsschnitzer' mit der Botengustel ebenfalls eine Botenfrau zu finden ist.

Von dem dominant kindlichen Blickwinkel her ist die 'Sonnenscheinchen'-Erzählung wohl am stärksten mit 'Des Kindes Ruf' vergleichbar, wenngleich die dortige Handlung natürlich schon erkennbar düsterer ist. Parallelen finden sich aber nicht nur in der Hervorhebung eines Kindes als wesentlichen Charakter, sowie auch in der vergleichbaren besonderen Beschreibung des kindlichen 'Erwachsene Nachmachen' & Verkleiden - hier das Verbinden eines Verwundeten, dort der Kampf von Räuber und Soldaten mit anschließenden Zuchthausspiel (derartiges Kindertreiben findet sich sonst nur anfangs von 'Auf den Nußbäumen') - sondern auch in weiteren einzelen kleinen Motiven und Figurenportraits. Im folgenden Zitat etwa finden sich mit der Großmutter, dem Sonnenschein und dem Lehrer gleich drei solcher in beiden Erzählungen zu findenen Sujets:

Die Großmutter erhob sich und trat in das Haus. Sie wollte die Thränen verbergen, welche ihr in den schmerzenden Augen standen. Die beiden Anderen folgten ihr nach. / Als der Knabe nach einiger Zeit wieder auf die Straße trat, hatte sich sein Aeußeres vortheilhaft verändert. Die Liebe, welcher er im Lindenhofe begegnete, glänzte in dem Sonnenscheine wieder, der auf seinem frohen, jetzt so sauberen Antlitze lag, und erwartungsvoll blickte er in die Fenster des Schulhauses, ob vielleicht an einem derselben der Lehrer stehe und die Besserung bemerke, die mit dem Struwelpeter vorgegangen war.

Ein weiteres wesentliches Merkmal der 'Sonnenscheinchen'-Geschichte ist die moralische Charakterisierung der erwachsenen Hauptfigur Fritz Felber, der sich durch Zorn fast zu einen Mord hinreißen läßt, und insofern nicht als blütenweißer Held geschildert wird. In einer negativen Bewertung der Autorenschaft Mays an 'Rache oder das erwachene Gewissen' stellte Hainer Plaul im Jahrbuch 1977 hingegen fest: Es kommt hinzu, daß in Mays Dorfgeschichten nur die Wohlhabenen die Bösen verkörpern, die kleinen Leute, denen er selbst angehört, repräsentieren die Guten und Tugendhaften. Doch trifft dieses Argument nicht immer zu, insofern man mit den Guten nämlich die moralisch Einwandfreien meint: Bei einigen Kurzgeschichten, deren Ursprung man durchaus ebenso in der Zeit vor Mays Haft in Waldheim vermuten könnte, sind die Haupthelden eben auch nicht ganz so tugendhaft. Sowohl der Förster in "Der Samiel" als auch Fährmann in "Des Kindes Ruf" lassen sich zunächst mit der 'falschen' Frau ein und übergehen dabei bewußt zunächst die eigentlich zu ihnen passende 'richtige' Braut. Dies sind halt nicht die typischen Söhne anderen Dorfgeschichten ("Giftheiner", "Sonnenthau", "Waldkönig", usw.), die in unerschütterlicher Treue zu der Tochter einer verarmten oder in der Elterngeneration verfeindeten Familie stehen. Daß auch Felber durch seinen fast mörderischen Zorn von dem Helden-Ideal der klassischen Dorfgeschichten abweicht, könnte also auch durch eine frühen Entstehung der Erzählung bedingt sein.

Auch das Klischee von den 'bösen' Reichen, findet sich in 'Sonnenscheinchen' ebensowenig wie in "Des Kindes Ruf". Eine weitere Auffälligkeit ist das 'Nebenbuhler'-Motiv: In "Der Samiel" zeigt die Charakteriesierung der Wiesenbäuerin (... ich muß Dich haben, und wenn das nicht sein soll, so gilt mir alles gleich, ob ich todt bin oder lebendig, ob du stirbst oder lebst!.) spürbare Parallelen zum Waldbauern (Was der Waldbauer einmal will, daß muß er auch bekommen, und weil sie nicht gewollt hat, so sollen sie alle dafür büßen.) wie auch zum Pachthofer: Der Pachthofer wollte sie haben. Sie wies ihn ab. Schon das mußte ihn kränken. Als er aber erfuhr, daß sie mich, seinen Knecht, lieber habe als ihn, da war das eine Beleidigung, die ihn ergrimmen mußte. Er hatte getrunken, als er mich mit ihr traf. Er war berauscht. Darum versuchte er es, auf mich einzuschlagen.
Zuletzt geändert von Thomas Schwettmann am 9.1.2005, 17:27, insgesamt 1-mal geändert.
Thomas Schwettmann

Vierzeiler voll Sonnenschein und Frühling

Beitrag von Thomas Schwettmann »

Zugegebenermaßen sind derartige Motive allgemeine Klischees, sodaß eine analoge Verwendung in zwei Texten keinerlei Kausalität bedeuten muß. Dies gilt ebenso für eine weitere Parallele, die sich zum umstrittenen 'Gewissen' finden läßt, nämlich der 'Urschrei' im Moment der Läuterung und inneren Umkehr. Zunächst die Szene beim Waldbauern: Und als Grunert geendet hatte, kämpfte sich die Überspannung aller Muskeln und Nerven in einem einzigen unartikulierten, schier unmenschlichen Schrei aus der keuchenden Brust hervor. Im Vergleich dazu nun der Vater von 'Sonnenscheinchen', die gerade ihr Gedicht zu Ende deklamiert hat: Felber schloß zunächst für ein paar Augenblicke die Augen, als ob in seinem Innern etwas vor sich gehe, was niemand von außen sehen dürfe. Dann stieß er einen Schrei aus, der laut durch die Stube schmetterte und noch draußen auf der Straße gehört werden konnte.

Der in der Szene zitierte 'Sonnenschein'-Vierzeiler hat übrigens eine Halbzeile gemein mit einem Gedicht aus den 'Himmelsgedanken'. Ist dies dann nicht doch ein Indiz für eine späte Niederschrift, zumindestens dieses Gedichtes? Denkbar wäre allerdings auch, daß die in beiden Gedichten verwendete Phrase Laß dich doch erflehen! eine unabhängige Übernahme aus einem Fremdtext - etwa einem Kirchenlied - sein könnte.

Komm mit hinaus in meinen Sonnenschein,
Ich bin der Frühling. Laß dich doch erflehen!
Der liebe Gott schickt mich zu dir herein,
Du sollst mit mir hinaus ins Freie gehen.


Hier nun der entsprechende Ausschnitt aus 'In tiefer Noth' (Himmelsgedanken):

So, wie der Hirsch nach frischem Wasser schreit,
So steh ich am Verschmachten, am Vergehen.
Es ist die höchste, allerhöchste Zeit;
O laß dich, Herr und Vater, laß dich doch erflehen!


Auffällig ist freilich aber auch, daß Felber in seiner dem Schrei folgenden verbalen Reaktion, die erste, dritte und vierte Zeile fast wörtlich zitiert, während dabei die zweite Zeile mit Laß dich doch erflehen! keinerlei Beachtung findet. Stattdessen reflektiert er, daß es ihm erst finster, dann licht vor den Augen wurde: "Mein Sonnenscheinchen, mein liebes, liebes Sonnenscheinchen - - - -! Ja, ja, es ist richtig: Der liebe Gott hat dich von draußen hereingeschickt -! Was hätte ich getan - - was, was? - - Das war der Mord, der Mord! - - - - Es war finster vor meinen Augen, ganz finster, dunkel, dunkel! Da kamst du, der liebe, helle Sonnenschein. Da wurde es wieder licht - - licht - - - licht - - -! Ja, komm, komm, komm - - - hinaus ins Freie! (...)" Könnte es deshalb vielleicht eine frühe Gedichts-Version gegeben haben, bei der die zweite Zeile anders gelautet hat, sich - im Kontext von Augen/finster/dunkel/licht durchaus denkbar - z.B. auf 'sehen' reimte?

Die Thematik von 'Frühling & Sonnenschein' ist in Versform natürlich weit verbreitet, und auch May baute derartiges beispielsweise schon in seine 'Geograhischen Predigten' (Wald und Feld) ein, wobei dort allerdings nicht erkenntlich wird, ob es sich um ein ungekennzeichnetes Fremdwerk oder eine Eigenkreation handelt:

Ach, nur ich steh so alleine,
Ohne Licht und Sonnenschein;
D'rum, Du Holde, die ich meine,
Sag', willst Du mein Frühling sein?


Ein ähnliches 'Frühling & Sonnenschein'-Gedicht ist ferner noch in der alten Ausgabe von GW 49 'Lichte Höhen' als Motto des Abschnittes 'Erwachener Tag - Frühe Lyrik' abgedruckt, wobei man allerdings aus Erfahrung leider keine Garantie dafür geben kann, daß der Text vollständig authentisch ist, auch fehlt beim Abdruck jede Quellenangabe:

Der Frühling naht; die starre Knospe bricht
und süßer Duft begrüßt den Sonnenschein.
Schau du als Lenz mir warm ins Angesicht,
und laß mich, laß mich deine Blume sein!


Wenn man nach weiteren Texten forscht, die Karl May als ausdrücklich ebenfalls in der frühen 60er Jahre entstandene nennt, so findet man in 'Ein Schundverlag' (1905) folgende Notiz: Ich war bereits seit Anfang der sechziger Jahre Schriftsteller. Aus jener Zeit stammt z.B. die inkriminierte Novelle 'Wanda', die ich später Münchmeyer für nur einen Abdruck überließ. Nun gibt es aber einige Hinweise, daß die Novelle 'Wanda', so wie sie im 'Beobachter an der Elbe' abgedruckt wurde, wohl erst 1875 niedergeschrieben worden ist. Dazu gehört etwa die Szene, in der Winter und Wanda über das belletristische Blatt diskutieren, welches in seinen bisherigen Jahrgängen zu den erwähnten mittelmäßigen Journalen zu zählen war. im folgenden Satz scheint sich der Neu-Redakteur May dann selbst zu meinen, wenn er schreibt: Seit aber jener Unbekannte seine Beiträge liefert, ist es in die Reihe unserer ersten periodischen Schriften getreten (...). Darüber hinaus spricht die enge Anlehnung des Schlußkapitels 'Ueber den Wolken' an Vernes Kurzgeschichte 'Ein Drama in den Lüften' (die erst 1875 in deutscher Übersetzung erschien) dafür, daß die gesamte Novelle erst 1875 niedergeschrieben wurde.

Ferner kann man mutmaßen, daß sowohl der anfängliche Brand im 1. Kapitel als auch das Steinbruch-Abenteuer im 2. Kapitel frühestens 1869 niedergeschrieben worden ist, da May aus diesem Jahr ein stark prägendes Steinbruch-Brand-Erlebnis in 'Mein Leben und Streben' schildert, zudem es angesichts der daran anschließende Flucht höchst unwahrscheinlich sein dürfte, daß er dieses Ereignis noch im gleiche Jahr literarisch umgesetzt hat, sodaß man auch bei diesen Schilderungen von einer späteren Niederschrift, möglicherweise ebenfalls erst um 1875, ausgehen muß. Stilistisch auffällig ist dabei auch eine gleichartige Formulierung bei den Brandbeschreibungen in 'Wanda' (Blutig roth glänzte der Himmel) und 'Old Firehand' (Der Himmel glänzte blutig roth), was gleichfalls den Gedanken an eine zeitnahe Niederschrift beider Texte nahe liegen läßt.

Insofern bliebe nur die Haupthandlung des 'Auktion'-Kapitels als möglicher Inhalt einer so frühen Urfassung, wobei der geschilderte Verein 'Die Erheiterung' tatsächlich dem Gesangsverein 'Lyra' nachempfunden sein dürfte, dem der junge May 1863/64 vorstand. Denkbar wäre dabei auch, daß der Winter-Charakter ursprünglich kein Schornsteinfeger, sondern wie in der 'Repertoriums'-Notiz 69.) Ein Celloer. »Wanda«. ein Cellospieler gewesen war.

Im Zusammenhang mit der 'Sonnenscheinchen'-Erzählung ist dabei nun von Interesse, daß im ersten 'Wanda'-Kapitel eine in Rückschau erzählte Szene enthalten ist, in der der 'fast siebzehnjährige', also tatsächlich noch sechzehnjährige Emil die dreizehnjährige Wanda - genannt das 'Heckenröslein' - trifft und ihr bei dieser Gelegenheit für sie 'Die wilde Rose' dichtet, von der dann der vierzeilige Schluß zitiert wird:

D'rum schließe Deine Augen zu,
Worin die Thränen glühn.
Ja, meine wilde Rose, Du
Sollst nicht im Wald verblühn!«


Dies könnte man - neben 'Des Kindes Ruf' - als Übergang zwischen der in 'Sonnenscheinchen' fokusierten Kinderwelt und der fast im ganzen restlichen Werk dominaten Erwachsenenwelt ansehen. Jedenfalls wirkt das Paar Winter/Wanda doch schon wie eine nun drei Jahre ältere, inzwischen jugendliche Version von Majörle & Sonnenscheinchen, wobei - auch als Ausdruck des Erwachsenwerdens - der junge Emil Winter nun anstelle der Mutter das Dichten selber besorgt. Die Vermögensverhältnisse zwischen Junge und Mädchen sind bei dieser Paar-Variante vertauscht - Wanda ist reich und Emil arm - die Zuordnung Dorf/arm-Stadt/reich ist aber geblieben. Ferner ist auch das Nebenbuhlermotiv vorhanden, wobei sich diese Auseinandersetzung diesmal jedoch aktuell in der erzählten Gegenwart abspielt, die Art des Verlaufes und der Auflösung des Konfliktes (ob es etwa z.B. ebenfalls zu einem Mordanschlag kommt) in einer solchen hypothetischen Urfassung läßt sich allerdings nicht rekonstruieren.
Zuletzt geändert von Thomas Schwettmann am 9.1.2005, 17:29, insgesamt 1-mal geändert.
Thomas Schwettmann

Weitere Frühwerksdatierungen

Beitrag von Thomas Schwettmann »

Schon diese kurzen, wenigen Betrachtungen zeigen, daß das 'Sonnenscheinchen', trotz aller inhaltlichen Abweichungen, mehr als nur oberflächlich den Typus der frühen Dorfgeschichte erfüllt. Sollte Karl May diese Erzählung tatsächlich erst 1903 komplett niedergeschrieben haben, dann hat er es jedenfalls maysterhaft verstanden, die Form seiner wirklichen Erstlingswerke zu imitieren. Oder sollte die Geschichte tatsächlich, wie von ihm im Manuskript 'Die Schundliteratur und der Früchtehunger' behauptet, nicht doch bereits Anfang der 60er Jahre entstanden sein?

Immerhin kann man nachprüfen, welchen Wahrheitsgehalt Aussagen über die Datierung und Inhalt seiner Frühwerke in einigen verifizierbaren Fällen haben. Beginnen wir etwa mit seinen Angaben zu den 'Geographischen Predigten'. Daß diese überhaupt je existierten, war zu Mays letzten Lebensjahrzehnt praktisch nicht nachzuweisen, KMV-Verleger Schmid fand erst in den 20er Jahren im Münchmeyer-Verlag ein Exemplar, welches diese Behauptung bestätigte. Lesen wir dazu Mays Hinweise in 'Karl May und seine Gegner' (1899): Ich habe in meinen Geographischen Predigten diesen nun endlich erscheinenden Bänden eine erklärende Einleitung vorausgesetzt. Sie enthalten fünf Kapitel: 'Himmel und Erde', 'Erde und Meer', 'Strom und Straße', 'Stadt und Land', 'Haus und Hof', das letzte Kapitel ausklingend in 'Gotteshaus und Kirchhof', von wo aus die Seele zur Heimat zurückkehrt, der sie im ersten Kapitel 'Himmel und Erde' entstiegen sind. Diese Aussage enthält einiges Wahres und einiges Falsches. In Wirklichkeit sind es acht Kapitel, das zweite trägt dabei den Titel 'Land und Wasser', Kapitel 3-5 fehlen, und ein Untertitel 'Gotteshaus und Kirchhof' wird nicht explizit erwähnt, dabei aber sowohl das 'Gotteshaus' als auch der 'Kirchhof' tatsächlich am Ende des Kapitels thematisiert. Dabei muß man zudem berücksichtigen, daß May diesen Artikel fern der Heimat auf seiner Orientreise geschrieben hat, fern seiner Bibliothek, ohne jede Möglichkeit der Recherche, nur von seiner Erinnerung abhängig. Insofern sind seine Angaben eigentlich recht wahrhaftig geraten. Daß er dabei die genaue Kapitelanzahl wie auch die Titel der ungenannten Kapitel vergessen hat, ist jedem nicht weiter verwunderlich, der einmal versucht hat, eine Reihe zu memorieren. Wenn man an einer Stelle aus den Tritt gerät, so schafft man es zwar mitunter weiter hinten wieder korrekt einzuhaken, die dem Fehler unmittelbar folgenden Glieder hat man aber des öfteren auch vergessen. Bei May ist dieser Fehler offensichtlich, die im Gedächnis abgespeicherte Kombination 'konkret-elemetar' wurde einfach falsch herum erinnert. Anstelle des konkretisierten Begriffes 'Land' übernahm er aus dem 1. Kapitel die Elementbezeichnung 'Erde' und setze dann anstelle der Elementbezeichnung 'Wasser' den konkretisierten Begriffes 'Meer'. In diesem Falle wird man also davon ausgehen könne, daß trotz objektiv nicht ganz richtigen Angaben subjektiv gesehen Karl May durchaus die Wahrheit niederschreiben wollte.

Betrachten wie eine andere, ebenfalls nicht hundertprozentig korrekte Erinnerung. In 'Ein Schundverlag' schrieb Karl May: Er [d.i. Münchmeyer] wolle nämlich den "Beobachter an der Elbe" eingehen lassen und an dessen Stelle nicht zwei sondern drei neue Blätter gründen, zwei unterhaltende und ein belehrendes. Sogar die Titel habe er schon fertig. Die unterhaltenden sollten "Deutsches Familienblatt" und "Feierstunden", das belehrende aber "Schacht und Hütte" heißen.. Ergänzend heißt es in 'Mein Leben und Streben': Ich bgann gleich in den ersten Nummern der drei neu gegründeten Blätter mit der Ausführung meiener literarischen Pläne. (...) Ich bestimmte das "Deutsche Familienblatt" für die Indianer und die "Feierstunden" für den Orient. Tatsächlich aber wurde zunächst nur das "Deutsche Familienblatt" und "Schacht und Hütte" gegründet, letztere wurde dann ein Jahr später von den "Feierstunden" abgelöst. Liegt nun hier ebenfalls nur eine Fehlerinnerung oder gar eine bewußte Manipulation vor? Immerhin würde die geschilderte Aufteilung in ein Indianer-Blatt und ein Orient-Blatt der symbolischen Sichtweise entsprechen, die May im Alter rückwirkend gerne allen seinen literarischen Tun aufstempeln wollte. Vielleicht liegt hier die Wahrheit in der Mitte, daß nämlich Mays Erinnerung unbewußt durch den Wunsch nach symbolischer Wertigkeit derart beinflußt wurde, daß er bewußt glaubte, die Wahrheit zu berichten. Wie dem auch sein mag, auch hier liegt keine grobe Verzerrung von der Wirklichkeit vor, da sich der Irrtum oder die Manipulation nur den Zeitraum eines Jahres betrifft, nicht aber eines Jahrzehnt oder gar von vier Jahrzehnte.

Zu den Mayschen Angabe einzlner Werkerscheinungsdaten gehört auch die in Anmerkung 59 des 1976er Jahrbuch-Abdruckes von 'Auch über dem Wassern' zitierte Notiz: Laut einer undatierten Zettelnotiz stellte May sogar fest: Humoresken schrieb ich von 1860 an. Erzgebirgische . . . von 1866 an. Winnetou . . . von 1870 an. »Wüste" ... von 1878 an. (Zitiert nach: Hans Wollschläger, Karl-May-Bibliographie. Konzept. Ungedr. Manuskript 1962).

Allerdings vermag man 1870 als das Entstehungsdatum der ersten 'Winnetou'-Erzählung wirklich nicht zu glauben, in 'Auch über dem Wassern' schrieb May denn auch, daß meine erste Arbeit über 'Winnetou' schon in jener frühen Zeit erschien, wobei als Referenzdatum die auf 1875 datierte 'Urausgabe' der 'Geographischen Predigten' angegeben wird, was also der bekannten zweiten Mappe-Erzählung 'Old Firehand' entspricht, wobei die offensichtliche Ableitung des Namens aus 'Inn-nu-woh', der Titelfigur der gleichfalls 1875 erschienenden ersten Mappe-Erzählung, eine frühere Verwendung des Namens Winnetou äußerst unwahrscheinlich erscheinen läßt. Allerdings könnte May 'Winnetou' bei seiner Zettelnotiz analog dem Stichwort 'Wüste' lediglich als Schlagwort zur Bezeichnung des Indianer-Genres schlechthin gemeint haben. Zwar ist bislang keine solche Erzählung bekannt, daß aber May, der sich laut 'Mein Leben und Streben' bereits 1858 nach Lektüre einer 'Gartenlaube'-Novelle an einer Indianer-Erzählung versuchte und diese dann der Zeitschrift zuschickte, auch 1870 eine erste professionelle Wild-West-Geschiche geschrieben haben könnte, scheint nicht gänzlich ausgeschlossen, zumal die Titelsammlung 'Repertorium' (ca. 1868) einige wenige 'amerikanische' Überschriften aufweist, wobei Nr. 47.) Meine schrecklichste Stunde. / "West-Eastern-Reilway" durchaus an den Eisenbahnüberfall in 'Old Firehand' erinnert. [Im KMG-Jahrbuch-Abdruck und in Christian Heermanns 'Winnetous Blutsbruder' liest man "West-Eastern-Reilway", in GW 79 liest man stattdessen "Great-Eastern-Reilway". Die korrekte Schreibweise sollte man aber in dem faksimilierten KMV-Nachdruck nachzulesen können. Da eine 'Große Östliche Eisenbahn' nicht durch den indianischen wilden Westen, sondern den seinerzeit schon durchweg 'zivilisierten' Osten verlaufen dürfte, würde sich in diesem Falle mit der Notiz zwar noch ein Eisenbahnunglück, jedoch kein Indianerüberfall mehr assoziieren lassen. Insofern besteht schon ein gewichtiger Unterschied zwischen den beiden Varianten.]

Da die Eisenbahn-Episode in 'Old Firehand' freilich erkennbar durch Gerstäckers 'In der Prärie' beeinflußt worden ist, dieser Quelltext aber erst 1870 erschien, hätte May also eine solche 'Urfassung' in Waldheim schreiben müssen, was angesichts der von verschiedenen Forschern recherchierten Haftbedingungen aber doch ziemlich unmöglich erscheint. Ohne diese Bedenken würde Mays 1870-Datierung einer ersten (Quasi-)'Winnetou'-Erzählung freilich durchaus verständlich erscheinen, da Winnetou in dem entsprechenden 'Old Firehand'-Ausschnitt ja seinen ersten Auftritt hat. Sicher ist jedoch, daß die ursprüngliche Inspiration für den 'Repertorium'-Titel nicht von der Lektüre der erst später erschienenden Gerstäcker-Erzählung stammen kann, auch hat Karl May in seinen Erzählungen dann weder eine West-Eastern noch eine Great-Eastern erwähnt, und ferner das Wort Reilway alleine nur (in der korrekten Schreibweise 'Railway') in 'Auf der See gefangen/Old Surehand II' benutzt. Auf der anderen Seite aber hat Karl May den Untertitel-Ausdruck meine schrecklichste Stunde leicht abgewandelt als eine der schrecklichsten Stunden meines Lebens in der Old Firehand-Erzählung wiederverwandt, allerdings nicht in Bezug auf den Bahnüberfall sondern dem vorherigen Ölbrand in New Venango.
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