Unerzählte Abenteuer & verschollene (?) Erzählungen

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Thomas Schwettmann

Unerzählte Abenteuer & verschollene (?) Erzählungen

Beitrag von Thomas Schwettmann »

In einigen Erzählungen Karl Mays - vorallen in denen, die Anfang der 80er Jahre entstanden sind, finden sich Hinweise auf einige Abenteuer, die jedoch nicht ausführlich ausformuliert wurden. Solche Verweise sollten in der Regel wohl einfach lediglich die Erfahrenheit des weltläufigen Ich-Erzählers demonstrieren, nur in ganz wenigen Fällen lohnt es sich zu spekulieren, ob es tatsächlich 'verschollene' Texte geben könnte, auf die hingewiesen werden könnte. Hier mal eine Auswahl solcher unerzählter Erlebnisse:

Durch die Wüste: Ich war in einem Lande, weit jenseits des großen Meeres; die Franken nennen es Australien. Dort fand ich wilde Männer, welche einen Scheitan haben, dem sie den Namen Yahu geben. Den beten sie an.

Die Gum: Ich hatte in Australien den Emu und das Känguruh, in Bengalen den Tiger und in den Prairien der Vereinigten Staaten den Grizzly und den Bison gejagt.

Winnetou III/Deadly Dust: Ich habe den Löwen in der Wildnis jene Laute ausstoßen hören, welche der Araber mit dem Worte 'Rad', d.i. Donner, bezeichnet; ich habe den bengalischen Tiger brüllen hören (...)

Deadly Dust
(nur Urfassung): Ich sollte mit Bernard nach San Franzisco zurückkehren, was ich auch zusagte, da ich Peru sehen wollte.

Der Ehri: Ich habe mit dem gebrechlichen indianischen Rinden-Kanoe den Missouri und Red River, mit dem Haut-Kanoe der Brasilianer den Orinoco und Marannon und mit dem fürchterlichen Katamorin der Ostinder den Indus und Ganges befahren (...)

Der Ehri
(nur Urfassung): Ich hatte nämlich mit ihm von Buenos-Ayres aus einen Ausflug in die Pampa's unternommen, und wir waren dabei ein klein wenig in die Lage gekommen, uns unserer Haut zu wehren. Vgl. dazu auch meinen Beitrag Ehri/Tode - Vergleichslesungen / Ein Ritt durch die Pampa hier im Forum, wo ich die These, daß es in diesem Falle eine bislang unbekannte 'Pampa'-Erzählung geben könnte, auslote.

Der Ehri: Ich habe in Westindien Taucher gekannt (...).
Urfassung: (...) in Westindien und auch bei Ceylon auf den Perlenbänken von Negombo Taucher gekannt (...)

Der Brodnik: (...) eine Frucht, welche mir an den norwegischen Fiords ebenso wie in der wasserleeren Sahara, am Marannon ebenso wie am Jang-dse-kiang reifte (...)

Der Girl Robber »Habt Ihr einmal einen Elefanten gesehen?« - »Einen wievielbeinigen?« - Er lachte vergnügt über meine Zurechtweisung. - »Aber noch keinen gejagt.« - »O doch; im Norden der Kalahari und auch anderswo, wenn es Euch gefällig ist, Sir John.«

Der Krumir: Wir hatten miteinander auf Ceylon den Elefanten und in Indien den Tiger gejagt, und Sir Percy hatte sich in den gefährlichsten Situationen als ein kühner Mann und sicherer Schütze bewährt.


Ferner gibt es auch noch unerzählte Erlebnisse des Ich-Erzählers Prinz Muhamêl Latréaumont, von denen dieser in Tui Fanua berichtet: (..) lernte ich die Gluth der Sahara und den Schneesturm der wilden Gobi, die Kaffernhorden Südafrikas und die Indianerstämme des »wilden Westens«, die heiligen Pyramiden des Nils und die versunkenen Atobesstädte in den Klüften der Kordilleren kennen.

Tatsächlich wurden in der Zeitschrift 'All-Deutschland' sogar weitere Latréaumont-Abenteuer angekündigt: Sodann haben wir die Feder des berühmten Orientreisenden Prinz Latréaumont gewonnen, welcher uns die asiatischen und afrikanischen Abenteuer seines wildbewegten Lebens erzählen wird, die aber zumindestens in dieser Zeitschrift nicht erschienen sind. Da es sich bei 'Tui Fanua' um eine Variante des 'Ehri' handelt, könnten die beiden in Aussicht gestellten asiatischen und afrikanischen Abenteuer ebenfalls als Varianten bereits geschriebener Erzählungen geplant gewesen sein. Als asiatische Geschichte hätte sich z.B. eine Bearbeitung des 'Girl-Robber' angeboten, während der Name Latréaumont ein Indiz dafür bietet, daß das afrikanische Abenteuer als Neufassung von 'Unter den Würgern' (d.i. 'Die Gum' in 'Datteln und Orangen') angedacht gewesen sein könnte.

Amand von Ozoroczy schreibt in den KMG-Mitteilungen 33 [ http://www.karl-may-gesellschaft.de/kmg ... /index.htm ], S. 33 in einem Artikel über den Roman "Deutsche Herzen und Helden", daß May zunächst plante, den Orient-Zyklus unter dem Latréaumont-Pseudonym zu veröffentlichen. Leider gibt Amand von Ozoroczy keinen Hinweis darüber, ob diese Aussage seine Hypothese ist oder etwa auf authentischen schriftlichen Notizen beruht. Mit dieser Theorie ließe sich jedoch der etwas überraschende Anfang des Orientzyklus mitten in der Wüste erklären, wenn man zusätzlich annimmt, der Erzählung sei ursprünglich eine dem ersten Kapitel der 'Gum' analoger Vorgeschichte vorangegangen. Merkwürdig ist jedenfalls, daß das erste Zusammentreffen von Kara Ben Nemsi und Hadschi Halef Omar völlig im Dunklen liegt. Vom Beginn der Reise vor dem Übergang Dschebel Aures ist lediglich bekannt, daß Kara Ben Nemsi einen französischen Paß in Algier - dem Ausgangspunkt der "Gum"-Erzählung - erhalten hat.

Daraus ließe sich folgende Handlung rekonstruieren: Zunächst ein erstes Kapitel, indem Muhamêl Latréaumont einen Zweig seiner Familie in Algier antrifft, die ihm von der Ermordung deren Vaters oder Onkels erzählen und deren Sohn sich auf die Verfolgung der Mörder gemacht hat. Dort dürfte Muhamêl auch - wie im "Gum"-Orginal - auf eine Hassan analoge Figur - also möglicherweise schon einen Hadschi Halef Omar - treffen, die ihn dann zu den Dschebel Aures begleitet. Der nächste Teil der Erzählung sollte der "Abu el Nassr"-Episode aus der "Giölgeda padishanün"-Serie (Anfang der Buchfassung 'Durch die Wüste') folgen, wobei statt Galingré aber Latréaumont zu setzen wäre und statt Kara Ben Nemsi dann Prinz Muhamêl Latréaumont die Wüste durchreiten würde. Nach dem Aufenthalt in der Oase Kibili müßte aber noch ein Schlußkapitel folgen, in welchem der Mörder zur Strecke gebracht werden sollte.
Zuletzt geändert von Thomas Schwettmann am 17.1.2005, 17:05, insgesamt 1-mal geändert.
Thomas Schwettmann

Mit Latréaumont durch die Wüste

Beitrag von Thomas Schwettmann »

Wie aber könnte die Latreaumont-Erzählung ausgegangen sein? Es ist kaum vorstellbar, daß der Mörder letztlich entkommen wäre, andererseits hätte ein zwielichtiger Charkter wie der Wekil bestimmt auch nicht für eine gerechte Strafe gesorgt. Karl May schreibt über Omar Ben Sadeks Verfolgung in 'Von Bagdad nach Stambul': Hier erfuhr ich, daß das Reitkamel, welches damals der Wekil von Kbilli so verräterisch an Abu en Nassr überlassen hatte, demjenigen, das Omar von seinen Freunden erhielt, überlegen gewesen war. Gleichwohl aber hatte er ihn bis Derna nicht aus den Augen verloren; dort aber hatte sich sein Kamel erst erholen müssen, und als er dann auf der Spur des Verfolgten nach Bomba kam, war es diesem bereits gelungen, sich einer Eilkarawane nach Siwah anzuschließen. Was Kara Ben Nemsi direkt nach dm Abenteuer in der tunesischen Wüste erlebte, erfährt man hingegen nicht, in dem unmittelbar folgenden ägyptischen Nil-Abenteuer ist allenfalls zu folgen, daß er möglicherweise in En-Nasar Station gemacht hat, dieser Ort ist eine ganz kleine, geringe Oase zwischen Homrh und Tighert im Lande Tripolis. Bekanntlich hat sich aber Franz Kandolf in dem Band 'Allah il Allah!' dieser zeitlichen Lücke angenommen. Dort heißt es:

Der Leser weiß, wie der Wekil Gerechtigkeit übte. Aber ich war nicht gewillt, mich auf diese weise abfertigen zu lasssen. Mein Auftreten und die kräftige Befürwortung der holdseligen Gattin des Wekils veranlaßten den Beherrscher des Nifzaua, mir für die verlorengegangenen Tiere einen Ersatz zu schaffen, mit dem wir durchaus zufrieden sein konnten. So waren wir vorzüglich beritten, als wir Kbilli verließen, um die reise durch die Regentschaft Tripolis und über die Oase Kufarah nach Ägypten fortzusetzen.

Auf die Ereignisse in der Oase kommen die beiden Reisenden nur noch kurz in einem Disput über den Namen Karl May zu sprechen: Dann haben wir den widerspenstigen Wekil von Kbilli gezähmt und unseren Wünschen dienstbar gemacht! - Du vergißt hinzuzufügen, daß uns dabei unser Gefangener entwichen ist." Im Gegensatz zum Orientzyklus setzt Franz Kandolf nun in bester Old-Shatterhand-Legenden-Tradition den Namen des Autors nun offen mit Kara Ben Nemsi gleich und läßt Halef den Schlangennamens 'Kara Ben Majj Ibn Majj Ibn el Ibn Majj' erfinden. Die Szene endet schließlich in einem weiteren 'Bekehrungsversuch', danach beginnt die Bearbeitung des 'König der Wüste'-Textes.

Einen passenden, möglicherweise durch den 'Sand des Verderbens' (Er Raml el Helahk) inspirierten Schluß unter dem Titel 'Die Strafe' erfand ca. 1971 der Schlagertexter und Filmautor Tobby Lüth für seine Hörspielfassung von 'Durch die Wüste', die wegen ihrer etwas unglücklichen Mischung aus Hörspiel und Hörbuch in der Umsetzung freilich teilweise etwas holprig geraten ist. Dennoch ist Lüths Version auf dem Papier sehr stimmig geraten und deshalb wert, hier zitiert zu werden. Seine Bearbeitung des vorherigen 'Vor Gericht'-Kapitels endet zunächst mit einem gegenüber dem Kapitelschluß des Buches - Hamdulillah, Preis sei Allah, daß ich nicht so glücklich bin, der Wekil dieser Statthalterin zu sein! - leicht modifizierten Aufatmens Halefs sowie - wie bei Kandolf - dem Hinweis auf die neuen Kamele, auf denen die Reise fortgesetzt wird:

(...) Allah sei gepreisen, daß ich nicht der Mann dieser Statthalterin bin!"
Als Zeichen, daß sie nicht schuld an allem sei, befahl sie, die besten Kamele für uns zu besorgen. Dann versorgte sie uns reichlich mit Wasser und Proviant, um für den Ritt
durch die Wüste gerüstet zu sein.

Die Strafe

Wir verließen die Oase Kibili und ritten mit den Kamelen nach Osten, also in die Richtung, wo Omar die Spur des Mörders aufnahm. Lange Zeit wurde kein Wort gesprochen, denn die Geschehnisse beim Wekil von Kibili hatten einen tiefen Eindruck hinterlassen. Wir hatten auch noch keine Spur Omars gefunden, denn der Sand in der Oase hinterließ kaum Fußabdrücke der Kamele, weil er sehr fest war. Halef fing als Erster zu reden an:
"Shidi, was wäre geschehen, wenn man uns zum Tode verurteilt und erschossen hätte?"
"Dann wären wir wahrscheinlich tot."
"Wahrscheinlich? Man hätte solange geschossen, bis wir mausetot wären!"
"Gut, dann wären wir eben mausetot."
"Und dann?"
"Dann hätte man uns sicher verscharrt."
"Und dann?"
"Dann gäbe es keinen Kara Ben Nemsi und keinen Hadschi Halef Omar mehr."
"Hadschi Halef Omar heiße ich hier auf der Erde. Wenn Allah mich zu meinen Vätern versammelt, muß ich meinen ganzen Namen nennen."
"Und wie lautet er."
"Hadschi Halef Omar Ben Hadschi Abul Abbas Ibn Hadschi Dawud al Gossarah!"
"Hoffentlich kann Allah sich deinen Namen merken."
"Allah kann alles! Du hast doch gesehen, daß er uns in der Oase das Leben gerettet hat."
"Haben wir nicht ein bißchen mitgeholfen?"
"Natürlich. Wir waren tapfer. Aber diese Tapferkeit gab uns Allah, weil er uns gnädig war!"
"Hoffentlich wird er auch zu Omar gnädig sein, denn er ist allein mit einem Mörder in der endlosen Wüste. Was ist, wenn er dem Falschen hilft?"
"Das wird er nicht tun, denn Allah ist gerecht!"
"Wenn er so gerecht ist, dann braucht ihr keine Blutrache. Dann würde er den Mörder strafen und es müßte nicht wieder ein Mord geschehen."
"Wenn Omar diesen Mann findet und tötet, dann ist es kein Mord!"
"Nenne es, wie du willst. Mir ist bei diesen Gedanken nicht ganz wohl."
Lange hatten wir noch so geredet und Halef versuchte, wie so oft schon, mich zu seinem Glauben zu bekehren. Plötzlich entdeckten wir eine Fährte. Es waren Spuren von Kamelen zu erkennen, von denen eine etwas älter und die andere noch sehr frisch war. Das müßte Omar sein. er war also dem Mörder auf den Fersen und konnte noch nicht sehr weit von uns entfernt sein. Wir trieben unsere Kamele an, um Omar einzuholen. Eine halbe Stunde sind wir so geritten, als sich plötzlich der Himmel verfinsterte und langsam kam der Flugsand in Bewegung.
"Sidhi, ein Sandsturm wird uns heimsuchen. Allah steh uns bei. Wenn wir keinen Schutz finden, sind wir verloren."
Der Wind wurde immer stärker. Der Sand schloß uns die Augen und das Atmen wurde schwer. Die Kamele wollten nicht mehr gehen. Wir sprangen herab und hielten sie an der Leine. Plötzlich schrie Halef:
"Sihdi, Sidhi, komm hier weiter nach rechts, ich habe eine Mulde entdeckt."
Wir zerrten unsere Kamele zu der Mulde. Dort legten wir uns flach mit den Kamelen hin, sodaß der Sand über uns hinwegflog. Ganze drei Stunden dauerte dieser furchtbare Sturm. Dann war es ruhig. Wir und die Kamele waren von feinen Sandstaub überzogen. Die Spur, die wir verfolgten, war nicht mehr zu finden. Wir ritten aber weiter in die Richtung, in die Fährte vorher verlief. Nach einer Stunde kam ein Hügel. Wir ritten hinauf, um das Gelände genau zu übersehen. Da sagte Halef:
"Sidhi, Allah segne meine Augen, da unten steht ein Kamel ohne Reiter!
Wir ritten hinunter und fanden hinter dem Kamel ... Omar! Er lag auf dem Bauch, die Hände hinter dem Kopf gefaltet. Wir dachten anfangs, der Mörder hätte auch ihn getötet. Wir drehten ihn um und merkten, daß er noch schwach atmete.
"Omar, Omar Ben Sadek, hörst du mich? - Sihdi, schnell, gib Wasser her!"
Halef legte Omars Kopf in seinen Schoß und flößte ihm vorsichtig Wasser ein. Langsam kam dieser zu sich und schlug die Augen auf. Nach einer Weile fing er zu sprechen an:
"Ich - Ich war ihm auf den Fersen. Ich hätte ihn erwischt. Dann kam dieser entsetzliche Sandsturm dazwischen. Allah, warum hast du das getan?"
"Zürne nicht mit Allah, er hat dir das Leben gerettet, denn wenn wir dich nicht gefunden hätten, wärest du elendig verdurstet. Da, siehst du dorthinten? Siehst du die Bartgeier? Die hätten dich geholt"
Als Omar "Bartgeier" hörte, sprang er auf.
"Ja, Bartgeier? Warum sind dort hinten Bartgeier? Dort muß der Mörder liegen! Schnell, wir müssen hin."
Er bestieg sein Kamel und ritt, so schnell er konnte davon, und wir hinterher. Plötzlich hielt er an. In einiger Entfernung waren die Geier dabei, einen Menschen zu zerfleischen, so, wie sie damals den jungen ermordeten Franzosen zerfleischten. Es war unser Mörder.
Ich sagte: "Laßt uns die Geier fortjagen und ein Grab für ihn schaufeln."
Als ich die Flinte hochhob, drückte Omar sie wieder herunter.
"Laß das. Ich wollte den Tod meines Vaters rächen, jetzt sollen die Geier das Werk vollenden! In der Dschenna wird er verglühen, denn Allah ist gerecht!"
Dann knieten beide in den Sand, verneigten sich in Richtung Mekka und beteten.
"Siehst du, Sidhi, werde doch ein Gläubiger, denn Allah ist gerecht!"
"Ja, Hadschi Halef Omar, Allah ist gerecht, aber ... auch die Wüste!"
Thomas Schwettmann

weitere verschollene Texte?

Beitrag von Thomas Schwettmann »

Eine erste Old-Shatterhand-Erzählung

Zu den Merkwürdigkeiten in der Entwicklung des frühen Erzähler-Ichs bei Karl May gehört der Umstand, daß May den Figurennamen "Old Shatterhand" ausgerechnet in der afrikanischen Orient-Erzählung "Unter Würgern" erstmals benutzt haben sollte. Der Name selbst spielt für den Handlungsverlauf keine Rolle, er wird lediglich beinahe beiläufig in der Einleitung erwähnt und wirkt eher wie ein Wiedererkennungssignal für den Leser. Ohne Zweifel übernimmt er diese Funktion auch in der Buchausgabe, doch für die Leser des "Deutschen Hausschatzes", welche vorher weder vom Autor May, gar noch von einen Old Shatterhand, gehört oder gelesen haben, dürfte die Berufung des Ich-Erzählers auf diesen Namen eher wie ein Versuch wirken, daß ein bis dato unbekannter Autor/Ich-Erzähler sich als jemand vorstellt, der sich bereits "einen Namen gemacht" hat.

Die Frage freilich ist nun die, ob May einen solchen Effekt bewußt kalkulierend angewandt hat, um den Leser mit einem scheinbar schon erlebten/erzählten Abenteuer zu beeindrucken, oder ob er sich tatsächtlich auf eine bei einer anderen Zeitschrift abgedruckte Erzählung berufen wollte. Tatsache ist, daß Karl May selbst Jahre später noch in der "Winnetou II"-Buchfassung von einem frühen Old-Shatterhand-Abenteuer mit Emery Bothwell berichtet, um das Wiedersehen mit dem Engländer in der Sahara in der Buchfassung von "Der Gum" plausibel zu machen. Das stärkste Argument gegen eine frühe "Shatterhand/Bothwell"-Erzählung scheint deshalb zu sein, daß May eine solche trotz derart massiver Hinweise nicht in die Gesammelten Reiseerzählungen/romane aufgenommen hat.

Oder hat er etwa doch? Man erinnere sich der Hausschatzfassung von "El Sendador": Hier schildert der Ich-Erzähler ein erstes Treffen mit Frick Turnerstick, in der Buchfassung ist daraus eine Wiederbegegnung geworden, sodaß man in den Buchausgaben vergeblich nach einer ersten Begegnung Charleys mit dem wackeren Kapitän suchen wird. Gilt ähnliches vielleicht auch im Zusammenhang mit Bothwell und Shatterhand?

Dann freilich müßte sich ein solcher Urtext in dem dritten Teil der "Satan und Ischariot"-Trilogie verstecken. Untersucht man nun diesen Romanteil danach, ob sich dort ein abgeschlossener, wahrscheinlich eher kurzer Handlungsteil befindet, in welchem Shatterhand und Bothwell agieren und in dem Old Shatterhand zudem seinen bekannten mächtigen Jagdhieb anwendet, welcher Bothwell dann zu der Namensgebung veranlassen könnte so wird man tatsächlich fündig: Das Kapitel "Im Todesthal" bringt alle Voraussetzungen mit sich, um als überarbeiterer Urtext einer frühen Old-Shatterhand-Geschichte von 1879 gelten zu können. So gibt es auch eine Szene mit dem bekannten Hieb gegen die Schläfe, welcher die Namensgebung "Old Shatterhand" begründen könnte.

Bei der Untersuchung dieses Kapitels auf einen möglichen Frühtextkern muß man sich zunächst alle Handlungstränge, die im Kontext mit der Melton-Haupthandlung stehen, entfernt denken, insbesondere also die Szene direkt nach der Gefangennahme von Shatterhand, Bothwell und Winnetou, welche in der Kopfrasur von Judith gipfelt. Für das eigentliche Todestal-Abenteuer ist dieser Einschub aber gänzlich ohne Belang. Auch Winnetou könnte völlig aus der Handlung ausgeschlossen werden, da er in der "Satan"-Fassung ohnehin an den zumeist deutsch geführten Gesprächen kaum Anteil hat, die wenigen Handlungen, die er am Schluß des Textes ausführt, wären ebenso von Shatterhand oder Bothwell ausgeführt werden. Jedenfalls legen sowohl die Anmerkungen in "Die Gum" als auch in "Winnetou II" nahe, daß Winnetou in einer frühen Shatterhand/Bothwell-Erzählung nicht (bzw. nur in der in der Rückschau erzählten Llano-Episode) beteiligt gewesen sein sollte, explizit kommt es allerdings nur in 'Deadly Dust' zum Ausdruck, wo der Häuptling der Apachen seinen Freund erstmals mit diesen Namen anspricht: "Winnetou hat gehört, daß ihn alle Männer des Gebirges und der Prärie nennen Old Shatterhand; er wird sein Bruder sein, wie vor vielen Monden!"

Des weiteren enthält die Todesthal-Episode weitere Details, die einen frühen Urkern denkbar machen: Da ist die Szene im Llano Estacado, mit Sandsturm und Fata Morgana, die wie eine frühe Skizze der Geschehnisse in "Deadly Dust" wirkt, da ist die Rückerinnerung an die Gefangenahme Winnetou und Old Shatterhands durch die Komantschen, welche eine Anzahl von Kaufleuten umgebracht hatten und nun ihrerseits mit einer unerbittlichen Härte von Winnetou und Shatterhand getötet werden, einer Härte die eher zu den frühen Winnetou-Erzählungen paßt, nicht aber zu einer Periode, in der neben der "Satan"-Trilogie auch "Winnetou I" entstanden ist. Ähnliche Rückblenden finden sich charakteristischerweise auch in "Im fernen Westen", wo in der Einleitung die allererste Version des ersten Zusammentreffens von Winnetou und Ich-Erzähler geschildert wird, und in "Deadly Dust" wo Winnetou von seinen tödlichen Auseinandersetzungen mit den Komantschen erzählt. Da ist ferner der Taschenspielertrick mit den geballten Fäusten, den Emery anwendet, der an das Gebaren Shatterhands in "Deadly Dust" erinnert, wo er erst die Komantschen auf Papier zeichnet um dann damit zu drohen, die Bildnisse in die Luft zu schießen und so die Seelen der Krieger zu zerstören. Überhaupt ist Emery Bothwell in der Todesthal-Episode überdurchschnittlich an den Geschehnissen beteiligt und auch Ideen wie die mit den geballten Fäusten fallen normalerweise in Texten der klassischen Periode stets nur dem Ich-Erzähler, allenfalls noch Winnetou ein, Figuren vom Range Bothwells sind normalerweise immer von der Allmacht der beiden Überhelden abhängig.

Schließlich ließe sich auch die irritierenden Antworten Old Shatterhands auf Emerys Frage nach den beiden Gewehren ("den Bärentöter und den Henrystutzen?") besser verstehen: In der Hausschatz-Fassung heißt es zunächst: "Die hatte ich damals beide noch nicht." In der Buchfassung korrigierte May diese Aussage zu: Den Stutzen hatte ich damals noch nicht." Falls die Todestal-Episode tatsächlich bereits vor der 'Gum' niedergeschrieben wurde, so wäre das Fehlen der Waffen in einer derartigen Urfassung jedenfalls nicht so ungewöhnlich und die Antworten Old Shatterhands in den beiden 'Satan'-Fassung als - wieder einmal - unzureichende Anpassung eines Alttextes in einen neuen Kontext verständlich erscheinen lassen.


Eine 'Lange Hilbers'-Erzählung

In den Erzählungen 'Deadly Dust', 'Im "Wilden Westen" Nordamerikas', 'Ein Ölbrand' und dem Kolportageroman 'Das Waldröschen' gibt es jeweils eine Stelle, an der vier bis fünf Namen berühmter Westleute hintereinander genannt werden:

Deadly Dust/Winnetou III: "Wenn es ein richtiger Kerl gewesen wäre, wie der rothe Winnetou, der lange Haller oder gar ein Pfadfinder wie Old Firehand und Old Shatterhand, ja dann, dann ---"

Im wilden Westen Nordamerikas/'Winnetou III': "Von Winnetou, von Old Firehand, von Old Shatterhand, von dem dicken Walker oder von dem langen Hilbers?" - "... der muß ein Kerl sein wie Old Firehand, Old Shatterhand, oder so klug und schlau wie Sans-ear, der alte Indsmentöter."

Ein Ölbrand: 'Durch solche unscheinbare Mittel sind Männer wie Winnetou, Old Firehand, der lange Hilbers, Fred Walker, Sam Hawkens und andere zu ihrer Berühmtheit gekommen.'

Waldröschen: »Nun, ich habe gehört von Sans-ear, von Schatterhand, von Firehand, von Winnetou, von dem berühmten Fürst des Felsens und von - -«


Zwei der aufgezählten Namen sind in Mays Texten aber nicht zu finden sind. Diese sind der lange Haller und der lange Hilbers. Während Haller als Hommage an die Hauptfigur und den Ich-Erzähler Henry Haller in Mayne Reids 'Skalpjägern' erklärt werden kann, bleibt der lange Hilbers ein kleines Mysterium. Während Old Shatterhand in 'Im "Wilden Westen" Nordamerikas' noch erklärt, diesen Westmann nicht zu kennen, so gehört er in 'Ein Ölbrand' zu seinen Bekannten. Dies führt zu der Frage, ob Karl May 1883 nicht auch eine Erzählung mit dem langen Hilbers geschrieben hat, andererseits erscheint die Vermutung plausibel, daß Hilbers als reine Phantomfigur in der Tradition von Haller nur als Gegenpol zum Dicken Walker erdacht wurde, da er in beiden Fällen unmittelbar mit diesem zusammen erwähnt wird.

Trotz dieser einschränkenden Vorüberlegungen ließe sich durchaus eine geeignete Urtextpassage finden: Wie im Falle des 'Todesthals' gibt es ebenfalls im 3. 'Satan & Ischariot'-Band bzw. der DH-Fassung 'Die Jagd auf den Millionendieb' mit der Figur des langen Parker/Dunker und der nächtlichen Wasserpartie in dem Kapitel 'Am weißen Felsen' eine Episode, die durchaus als Überarbeitung eines Hilbers-Urtextes denkbar wäre. Das stärkste Argument dafür ist die enorme Passivität von Winnetou und Bothwell in diesem Abenteuer, die ein Nichtvorhandensein dieser Figuren in einer spekulativen Urfassung wahrscheinlich machen würde. Ein solcher Frühtext würde natürlich keine Verbindungen mit der 'Satan & Ischariot'-Thematik aufweisen, ob darin etwa eine Tasche oder eine Frauenfigur eine Rolle spielen, kann in weder angenommen noch ausgeschlossen werden. Das dem 'Am weißen Felsen' folgende 'Gerettete Millionen'-Kapitel hingegen kann man als Fortführung im angedachten Urtext ausschließen, da sich eine solche Erzählung mit Sicherheit auf die Befreiung der Kutscheninsassen konzentriert haben würde und also unmittelbar mit dem Anfang des 'Schluß'-Kapitel angeschlossen hätte. So gibt es dort denn auch eine für die Erzählungen 'Im "Wilden Westen" Nordamerikas' & 'Ein Ölbrand' charakteristische Gewehrknall-Erkennungsszene, die in einem Urtext durchaus als dortige Erstbegegnung mit Winnetou erdacht worden sein könnte.

Relativ unverständlich wäre allerdings in diesem Zusammenhang, warum Karl May den 'Langen Hilbers' für die Hausschatz-Fassung dann überhaupt in den 'Langen Parker' umbenannt hätte und nicht einfach den ursprünglichen Namen beibehalten hätte, was ihm auch die Umbenennung zum 'Langen Dunker' in der Buchfassung erspart hätte. Auch aus diesem Grunde muß die Wahrscheinlichkeit, daß sich die Kutschenüberfalls-Episode aus 'Satan & Ischariot' tatsächlich auf einen Hilbers-Urtext basiert wohl als nicht besonders groß erachtet werden. Interessant ist aber dennoch, daß im 3. 'Satan und Ischariot'-Band im Gegensatz zu Band I & II die Pferde Hatatitla und Iltschi nicht erwähnt werden, da sie relativ späte Kreationen Mays sind, hätten sie auch weder in einem Bothwell- noch einem Hilbers-Urtext auftreten können.
Zuletzt geändert von Thomas Schwettmann am 26.1.2005, 17:05, insgesamt 1-mal geändert.
Thomas Schwettmann

Die erste Liebe des Mahdi

Beitrag von Thomas Schwettmann »

Eine frühe Mahdi-Erzählung

Eine möglicherweise weitere verschollene Erzählung ist "Die erste Liebe des Mahdi", die May 1885 in einen Brief an Kürschner angekündigt, von der er gar behauptet, diese halb fertig geschrieben zu haben. Dieses Projekt wurde offensichtlich durch den Tod des Mahdi angeregt, ähnlich wie beim "Krumir" reagierte Karl May hier auf aktuelle Ereignisse. Noch im gleichen Jahr noch kündigt der Schriftsteller im "Hausschatz" ebenfalls eine "Mahdi"-Erzählung an, worauf die Leser jedoch bis 1891 warten mußten, erst dann begann der Abdruck des zweiteiligen "Mahdi"-Romans, welcher im Gegensatz zum "Sendador" etwa seinen Titel eher zu Unrecht trägt, ist die Titelfigur doch eigentlich nur im einen Kapitel wirklich präsent, die schurkische Hauptperson ist ja dagegen "Ibn Asl". Folgerichtig wurde die Buchausgabe auch in "Im Lande des Mahdi" umbenannt.

Das eigentliche Thema des Romans ist natürlich die Bekämpfung des Sklavenhandels, anders als in den Südamerika-Romanen, folgt hier nicht die Kamarad-Erzählung dem Hausschatz-Roman sondern umgekehrt greift May das in der "Sklavenkarawane" aufgebrachte Thema auf und vertieft es nochmals im "Mahdi"-Roman. Der Auftritt des Mahdi im "Mahdi"-Roman erscheint eigentlich nur als eine Nebenhandlung, die allein dazu dient, mit dem Mahdi als die islamische Symbolfigur den Islam als solchen, mindestens aber in seiner fanatischen Variante als mitschuldig an der Sklaverei anzuklagen. Man kann sicher sein, daß dies keinesfalls das Thema der "Erste Liebe"-Erzählung gewesen wäre.

Der Titel "Die erste Liebe des Mahdi" erscheint zunächst - trotz der Ähnlichkeit zum etwa zeitgleich benutzten Titel "Der letzte Ritt" - als wenig maytypisch, und man fragt sich welche Art von Liebe May gemeint haben könnte: Eine Frau oder einen väterlichen, ihn in der Religion unterrichtenden Freund oder eine abstrakte Liebe zu Mohammed und Gott? Sollte May in einer solchen Erzählung den Mahdi wirklich so negativ gezeichnet haben, wie er es in dem Roman dann getan hat, wo der einzig zwingende Grund, daß der Mahdi nicht das Schicksal der anderen Sklavenjäger ereilt, offensichtlich der ist, daß er als historische Persönlichkeit den Roman überleben muß?

Die erste bekannte Mahdi-Erzählung von May ist indes die kleine unter dem Pseudonym P. van der Löwen geschriebene Skizze "Ibn el amm" aus dem "Guten Kamerad" (1887), eine Art Fabel von den Löwen, welche eine Karawane überfallen, die zum Mahdi unterwegs sind. Der Mahdi deutet am Schluß den Tod eines Fori-Negers damit, daß dieser im Gegensatz zu den anderen sein Gebet nicht beendet habe, und wird dabei als islamische Respektperson eher positv als negativ dargestellt. Nun sind parallele, dabei auch gegensätzliche Entwürfe bei May durchaus keine Seltenheit, wobei sich seine weltanschauliche Aussagen manchmal mindestens tendenziell dem Medium, also der Ausrichtung der jeweiligen Zeitschrift, opportunistisch anpaßten. Dennoch darf man annehmen, daß die absolute negative Zeichnung des Mahdi, die trotz einiger ambivalenter Passagen letztendlich den Roman bestimmt, in einer frühen Erzählung nicht vorgekommen wäre.

Wie in den obigen Fällen nun kann man nun das "Mahdi"-Kapitel des Romans heraustrennen und fragen inwieweit es - mit einigen Modifikationen - als isolierte Kurzerzählung bestehen könnte, ob also dieses Kapitel früheren Ursprungs sein könnte und die omminöse frühe "Mahdi"-Erzählung sein könnte: dabei ergeben sich einige überraschene Anhaltspunkte. Der Text beginnt - unvermeintlich, da er auch am Anfang des zweiten Romanteils steht - mit einer erzählungstypischen Einleitung. Als die klassische Begleitfigur ist Ben Nil in diesem Kapitel - bis auf dem Messerkampf - praktisch nicht präsent. Sein Platz wird von dem Führer mit der Visionsflinte eingenommen, der dabei allein in diesem Kapitel vorkommt. Die Kernhandlung besteht in der klassischen Löwenjagd, die May in seinen frühen nordafrikanischen Erzählungen ungefähr so oft und regelmäßig variiert, wie den Ölbrand in den nordamerikanischen Erzählungen (Die Gum, Der Krumir, Die Liebe des Ulanen, usw.) und zudem auch Thema der "Kamerad"-Mahdi-Skizze ist. Die Auseinandersetzung des Ich-Erzählers mit dem Mahdi zerfällt durch die Löwenjagd in zwei Teile, wobei sich der Mahdi nach seiner Lebensrettung scheinbar dankbar verhält. Dieser zweite Teil ist schließlich noch durch die Zäsur des Gespräches des Mahdi mit Abd Asl unterteilt, wobei die Ereiferung des Mahdi und sein Eingeständnis zu seinem Mahditum am Schluß erfolgt. Auffällig sind dabei zwei merkwürdige Aspekte: Zunächst wird Abd Asl als sterbender Greis bezeichnet, zeigt sich faktisch jedoch genauso zäh wie etwa Old Wabble und stirbt erst wesentlich später, nachdem er zum Reis Effendina transportiert wurde, der ihn den Krokodillen zum Fraß vorwirft. Zweitens wird das Gespräch zwischen Abd Asl und dem Mahdi als scheinbare Beichte einer Sünde getarnt. Könnte in einer Urfassung nicht die Fakir-Figur, welcher in der Romanhandlung Abd Asl entspricht, nicht wirklich eine sterbende - möglicherweise durch den Angriff eines Löwen verletzte - Person gewesen sein und das Gespräch mit dem Mahdi eine wirkliche Beichte gewesen sein, ein Gespräch in dem der alte, sterbende Fakir seinem Jünger möglicherweise erst zum Mahdi ernannt hat? Könnte May also ursprünglich eine Handlung erdacht haben, in der jener dramatische Augenblick geschildert wird, in dem der Mahdi zum Mahdi wird? Insofern wäre die Mahdi-Figur, die im Roman zunächst von sich in der dritten Person spricht, vielleicht ursprünglich nur vom dem Glauben an dem Mahdi, nicht aber von der Selbstidentität mit dem Mahdi - welche ihm erst durch den sterbenden Fakir offenbart wird - beseelt gewesen. In diesem Zusammenhang würde auch die Parallelsymbolik der Visionsflinte passen, welche vom Vater an den Sohn weitergegeben wird, und die wie oft bei May die ernste Haupthandlung in einer analogen komischen Nebenhandlung spiegeln würde.

In einer solchartigen Frühfassung würden aber wohl noch einige weiteren Handlungselemente entfallen oder verändert sein müssen. Es gäbe wohl keinen Bezug zum Sklavenhandel, auch ist fraglich, ob es überhaupt irgendwelche Gefangenen geben würde, und sich die Handlung nicht ganz auf das Löwenabenteuer konzentrieren würde. So könnte die Handlung etwa allein darin bestehen, daß die beiden Fakire zusammen auf den Ich-Erzähler und den Visionsflinten-Besitzer treffen, sich ein religöses Streitgespräch entwickelte, welches durch die Ankunft der Löwen unterbrochen wird. Im Kampfe mit den Raubkatzen würde dann der alte Fakir tödlich verletzt, vor seinem Tode offenbart er aber noch seinem jungen Schüler, daß dieser der erwartete Mahdi sei, worauf die Erzählung dann mit dem Dialog über die Zukunft des Mahdi, welcher dann natürlich auch nicht mehr vom Ich-Erzähler gefangen genommen würde, enden würde. Aus dieser Perspektive betrachtet, wäre auch einiges von dem zwiespältigen Verhältnis zwischen Mahdi und Ich-Erzähler, wie man es im Roman spürt, verständlich, da Karl May dann eine ursprünglich mindestens neutrale, wenn nicht gar mit leichten Sympathien behaftete Einstellung des Ich-Erzählers dem Mahdi gegenüber in eine ablehnende Haltung verändert hätte, wobei er sich seiner ursprünglichen Haltung jedoch nicht ganz entledigen konnte.

Es läßt sich freilich noch eine weitere, vielleicht gar plausiblere Möglichkeit einer frühen Mahdi-Erzählung denken: Der 'heißeste' Kandidat für einen bislang verlorenen Urtext wäre meineserachtens eine Zeitschriften-Erstveröffentlichung des 3. 'Mahdi III'-Kapitels 'Thut wohl denen, die Euch hassen'. Die Verlängerung des letzten 'Mahdi'-Bandes ist typisch für gleichartige Zusammensetzungen wie etwa 'Old Surehand I' (Anfang), 'Old Surehand II' oder 'Die Rose von Kairwan', in welchen ursprünglich völlig unabhängige Texte aneinandergereiht werden. Auch ist die betreffende Kurdistan-Episode völlig in sich abgeschlossen, und bis auf die einführenden Sätze und kleine Einschübe nur auf die ersten drei Bände des Orient-Zyklus und keinesfalls auf den 'Mahdi' bezogen, was für eine Entstehungszeit von ca. 1882-1891 spricht, vergleichbar den Zyklus-Nebenerzählungen 'Krumir' und 'Christi Blut und Gerechtigkeit'. Allerdings bezieht sich May auch in den anfangs der 90er Jahre entstandenen Erzählungen 'Mater Dolorosa' und 'Nûr es Semâ - Himmelslicht' exklusiv auf das 'Tal der Stufen'-Abenteuer, was natürlich auch geographisch begründet ist, da es kaum Sinn achen würde, wenn Kara Ben Nemsi auf der arabischen Halbinsel oder Kurdistan auf Erlebnisse im Balkan angesprochen würde.

Der Krumir (1882): »Rih ist ein arabisches Wort,« meinte er. »War der Herr des Pferdes denn ein Beduine?«
»Es war Mohammed Emin, der Scheik der Haddedihn von dem Stamme el Schammar.«
»So ist dein Hengst ein gewöhnliches Tier, denn kein Schammar verkauft ein gutes Pferd.«
»Er hat es nicht verkauft, sondern ich erhielt es als Geschenk von ihm. Ob es ein schlechtes Pferd ist, sollst du gleich sehen.«

Christi Blut und Gerechtigkeit (1882): »Von wem hast du es?«
»Von Mohammed Emin, dem Scheich der Haddedihn, vom Stamme der Schammar.«
Er fuhr im Sattel empor.
»Heißt der Hengst Rih?« fragte er.
»Ja.«
»Herr, so bist du der Fremdling, der die Wüstenschlacht im Thale Deradsch mitgemacht hat und dafür das beste Pferd jenseits des Flusses zum Geschenk erhielt?«
»Ja.«
»Und dieser Mann ist der Chismikar (Diener), den du bei dir hattest?«
»Er ist es.«

»Dein vollständiger Name ist Emir Kara Ben Nemsi?«
»Ja. Wer hat ihn dir genannt?«
»Die beiden Schirwani. Du bist der Fremdling vom Thale Deradsch. Er soll Löwen geschossen haben, ganz allein und mitten in finstrer Nacht?«

Mater Dolorosa, (1891): »Herr, bist du einmal bei den Zibar-Kurden gewesen?«
»Ja.«
(bezieht sich auf Christi Blut und Gerechtigkeit, 1882)
»Du bist Gast des Häuptlings derselben gewesen?«
»Ich pflege nur bei Häuptlingen zu wohnen,« antwortete ich stolz.
»So bist du derselbe Fremdling, welcher den Stamm der Haddedihn dadurch vom Untergange rettete, daß er drei Stämme ihrer Feinde in das Thal Deradsch lockte, wo sie sich ergeben mußten?«
»Der bin ich allerdings.«

Nûr es Semâ - Himmelslicht (1892): »Hier seht ihr den berühmten Emir Kara Ben Nemsi. Kennt ihr seinen Namen? Und ich bin Hadschi Halef Omar, sein Freund und Gefährte. Ihr seid jung und also damals nicht dabei gewesen; aber wir haben im Thale der Stufen mit euch und den Haddedihn gegen die Abu Hammed, Dschowari und Obeïde gekämpft. Das war ein sehr großer Sieg, und ihr wißt gewiß, daß ihr denselben diesem Emir Kara Ben Nemsi zu verdanken hattet.«

Im Lande des Mahdi III (3. Kapitel, 1896 ?): »Ist das der Emir Kara Ben Nemsi Effendi, welcher damals den Stamm der Haddedihn von allen seinen Feinden befreite?«
»Ja,« antwortete Halef; »er ist dieser berühmte Krieger, den noch nie ein Feind zu besiegen vermochte und der sogar den Löwen ganz allein und nur des Nachts aufsucht, um ihn mitten in das Auge zu treffen.«
»Also derselbe, welcher dafür von Mohammed Emin, dem Scheik der Haddedihn, den unübertrefflichen Rapphengst Namens Rih geschenkt bekam?«

»So bist du der kleine Kerl, der mit jenem Ungläubigen, jenem Christen geritten ist, welcher im 'Thale der Stufen' die vereinten feindlichen Stämme besiegte, die den Stamm der Haddedihn verderben wollten?«
»Ja.
«

Daß May sowohl das 3. als auch das 4. Kapitel des 'Mahdi' erst für die Buchausgabe völlig neu geschrieben hätte, halte ich hingegen für relativ unwahrscheinlich, das dritte Kapitel erscheint dort als ein typischer Fülltext, dem dann in bewährter Weise ein verbindenes Schlußkapitel angeheftet wurde. Es wäre nun möglich, daß es sich bei so einer Urfassung um 'Die erste Liebe des Mahdi', in der dann der im Vergleich zu Mohammed Achmed völlig gleichartig (30 Jahre, asketisches Gesicht mit Vollbart) geschilderte Ssali Ben Aquil dann wohl nicht als Mahdi-Suchender sondern gar als Mahdi selber aufgetreten wäre.
pst
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unbekannter Ärger mit einem Grizzly?

Beitrag von pst »

Hier ist eine möglicherweise weitere verschollene Erzählung:

Im ersten Kapitel von Winnetou 3 trifft Old Sahtterhand(kurz: OS) mit Sans Ear zusammen. Sans Ear meint er würde OS an einer Narbe auf der Brust erkennen, welche von einem Grizzly stamme, woraufhin OS ihm die Narbe zeigt und erzählt das er einmal von dem Grizzly im Schlaf überrascht worden sei. Er konnte den Bären töten, war aber schwer verwundet worden und wurde nachdem er 2 Wochen lang mitten in der Wildnis darniederlag von Winnetou gefunden.


Ich hab einige Karl May -Bücher gelesen kenne aber keines in dem dieses Ereignis erzählt wird. Anscheinend gibt es auch verschiedene Versionen dieser Stelle, ich hab sie von http://gutenberg.spiegel.de aber ich entsinne mich wage an meinen Winnetou3 Band aus Kindheitstagen, wo Sans Ear nicht nur nach der Narbe auf OS's Brust sondern auch nach der am Hals fragt, welche ja ein nettes Andenken an die ersten Begegnungen mit Winnetou ist. Bitte schreibt, wennihr mehr darüber wisst.
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rodger
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Beitrag von rodger »

Schon bei Karl May gibt es solche Sachen gelegentlich in verschiedenen Variationen, und spätere Bearbeiter haben auch gern noch einmal kräftig zugeschlagen, das kommt sozusagen erschwerend hinzu.

Im Original lautet die Stelle:

„Aber, hm, nehmt mir's nicht übel, Sir; Old Shatterhand hat einmal unter einem Grizzlybären gelegen, der ihn im Schlafe überraschte und ihm das ganze Fleisch von der Schulter bis über die Rippe hinunterzog; er hat sich den Streifen Rumpsteak zwar glücklich wieder aufgeleimt, aber die Narbe muß doch zum Beispiel noch recht gut zu sehen sein!“
Ich öffnete meinen Büffelrock und das darunter befindliche weiße, hirschlederne Jagdhemd.
»Schaut her!«
»Potz alle Wetter, hat Euch der Kerl zugerichtet! Da müssen ja alle achtundsechzig Rippen blank zu Tage gelegen haben?«
»So war es beinahe auch. Es geschah unten am Redriver, und ich lag mit dieser fürchterlichen Wunde zwei Wochen lang neben dem Bären am Flusse, nur auf mich selbst angewiesen«

Und in der Bamberger Ausgabe „Klassische Meisterwerke“ (statt dessen !):

„Aber, hm, nehmt mir's nicht übel, Sir: Old Shatterhand hat von Winnetou einen Stich in den Hals bekommen, der –„
„Schaut her – da ist die Narbe!“
„Tatsächlich ! Da ist sie !“

(mittlerweile in der Neuausgabe von Winnetou III möglicherweise "rückbearbeitet")
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