Am Rio de la Plata / In den Cordilleren

Rene Grießbach
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Am Rio de la Plata / In den Cordilleren

Beitrag von Rene Grießbach »

In etwas ausführlicher Weise möchte ich hier mal ein paar Gedanken zu den beiden Südamerikabänden ins Forum setzen. Ob über die beiden Bücher hier schon mal diskutiert wurde, weiß ich nicht ... :wink:
Der Text ist nicht neu, hab ihn nur eben wiedergefunden unter meinen vielen Dateien auf dem PC und mir gedacht, der passt hier ins Forum gut rein.

Zunächst möchte ich dazu bemerken, dass ich die beiden Bände alles in allem zu den eher schwächeren Werken Karl May´s zähle (neben den Mahdi-Bänden)

Was nicht heißt, dass sie schlecht wären. Das zu sagen, wäre, glaub ich, falsch.
Sie haben durchaus ihre Stärken und Besonderheiten, die auch sie lesenswert machen.

Vor allem hebt sich dabei der Band „Am Rio de la Plata“ positiv hervor, mit der Militärgeschichte und der Situation, dass der Ich-Erzähler aufgrund seiner Ähnlichkeit mit einem südamerikanischen Politiker sozusagen zwischen die Fronten rivalisierender politischer Gruppen gerät und damit in diesem Band politische Ereignisse seiner Zeit thematisiert, wie er es sonst nirgendwo in seinen Reiseerzählungen vor 1900 gemacht hatte ( in den Münchmeyerromanen, v.a. in Waldröschen und Liebe des Ulanen thematisierte er auch politische Ereignisse seiner Zeit relativ intensiv) .
Auch in der Geschichte „Der Scout“ (bzw. Anfang von „Winnetou II“) wird das politische Geschehen (Juarez) nur nebenbei erwähnt, trotzdem Old Shatterhand ja eigentlich am Ort des Geschehens war.

Damit nimmt meines Erachtens der „Rio de la Plata – Band“ eine gewisse Sonderstellung ein.

Wenn ich aber für mich entscheiden sollte, welcher der beiden Bände mit besser gefällt, dann könnte ich diese Frage so nicht beantworten. Ich halte sie eher für gleichwertig, denn auch der Cordilleren-Band hat seine Besonderheiten, vor allem das immerhin interessante Verhältnis zwischen Charly und dem Sendador. Der Versuch in diesem Band, eine den Nordamerikaerzählungen ähnliche Abenteuergeschichte zu schreiben, ist in meinen Augen nur zum Teil geglückt, dafür aber hat er hier Passagen wie die um den alten Desierto und Unica, die dem Buch eine besondere Note verleihen.
Die Indios im allgemeinen kommen eher schlecht weg, die Sympathie, die May den nordamerikanischen Indianern entgegenbringt, spürt man hier in den Südamerikabänden nicht. Schade. An Quellenmaterial dürfte das nur zum Teil gelegen haben.

Ebenso aber haben beide Bände in meinen Augen erzählerische Längen, die das Lesen etwas erschweren und damit die Geschichte zum Teil regelrecht langweilig erscheinen lassen.

Betrachten wir uns noch ein paar der Personen, speziell zwei:
Frick Turnerstick: Bei ihm glaube ich, dass Karl May hier eines seiner erprobten Originale anderer Reiseerzählungen wiederverwenden wollte, um einerseits in bewährter Weise die Geschichte aufzulockern und um andererseits eine gewisse Verbindung zu seinen anderen Reiseerzählungen aufzubauen. Im Vergleich mit anderen Geschichten, in denen Turnerstick auftritt, konnte er sich hier aber nicht wirklich entfalten und wirkte in meinen Augen etwas fehl am Platze.

Bruder Jaguar: vom Ansatz her eine sehr interessante Figur, wird nach seinem ersten Erscheinen im Rio-de-la-Plata-Band (in dem er die Verfolger Charly´s vertreibt und sagt, sie fürchten sich vor ihm) nicht wirklich klar, was eigentlich so besonders an ihm ist, dass sich die Soldaten vor ihm fürchten. Es erschließt sich für mich absolut nicht, womit diese Angst begründet und gerechtfertigt ist.
Somit erscheint für mich auch der Bruder Jaguar (in keiner Weise vergleichbar mit Vater Jaguar im Inka-Band) in der konkreten Umsetzung eher langweilig.
Hat das vielleicht auch Karl May selber gemerkt, dass der Bruder ihm nicht so recht gelingen will und lässt er ihn deshalb über weite Strecken des Cordilleren-Bandes in der Gefangenschaft verschwinden? Aus der sich übrigens, wenn der Ansatz beibehalten geworden wäre, der Bruder mit Leichtigkeit selbst hätte befreien können müssen? Es wirkt beinah befremdlich, dass der Bruder Jaguar und die anderen Haudegen (hier v.a. Turnerstick und der Steuermann) sich nicht selbst haben herausschlagen können.
Andere Variante als Ursache für das Verschwinden in der Gefangenschaft: im ursprünglichen , im Plata-Band gestalteten Ansatz wäre bei Beibehaltung desselben der Bruder Jaguar zu einer Figur geworden, die alles in allem unseren Charly überragen könnte, zumindest in allen Fragen gleichwertig mit ihm wäre. Was in den Reiseerzählungen allgemein ein Novum geworden wäre, da hier immer Charly/Old Shatterhand/Kara Ben Nemsi der Held war, dem sich alle anderen gern (?) unterordneten.
Gut ist an Jaguar sein Verhältnis zu den Indios geschildert, hier kommt mir aber der Missionar (und damit weniger der gleichberechtigte Freund) zu sehr durch.

Im großen und ganzen erscheint es schließlich so, dass Karl May seine bisherigen Reisegefährten regelrecht austauscht gegen Pena und ihm gegenüber haben wir endlich ein ähnliches Verhältnis, wie das von Old Shatterhand/Kara Ben Nemsi oftmals gegenüber anderen Kameraden.

Am sympatischsten erscheinen mir übrigens die Yerbateros in dem Doppelroman.
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rodger
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Re: Am Rio de la Plata / In den Cordilleren

Beitrag von rodger »

Interessante Ausführungen. Schön, daß mal wieder über May-Bücher geschrieben wird ... (ansonsten [hier &] andernorts: Filme, Freilichtspiele, Schnurzelpurzelkram, Larifari ...)

Zunächst zum Bruder Jaguar, m.E. das interessanteste der angeschnittenen Themen:
Augen sind ein bei Karl May immer wieder vorkommendes Thema. Der Vorwurf „Du hast Dukatenaugen“ in einer der Erzgebirgischen Dorfgeschichten hat mich seinerzeit sehr beeindruckt (und an einen ehemaligen Präsidenten eines westeuropäischen Landes denken lassen ... aber die Leut’ sehen sowas ja offenbar meerschtenteels nicht. Er war sehr beliebt ... „Dukatenaugen“ muß man übrigens nicht ausschließlich auf die Geld-Thematik beziehen (obwohl’s dann und wann (biographisch ...) durchaus passen würde ...). Auch um Dinge wie Kälte, sächlich-materialistische (will in etwa sagen: letztlich eben nicht wirklich menschliche ...) Grundhaltung geht es dabei ...). Und der charismatische Bruder Jaguar wirkt eben just durch die Macht seiner Augen ... das sind nun keine „Dukatenaugen“, sondern ganz andere, in denen ist Kraft, Energie, Willen. Und Wissen. Und Menschlichkeit. (Aber eben keine Schnurzlipurzliwischiwaschimenschlichkeit, sondern eine, die ggf. auch sehr hart & [vordergründig] unangenehm daherkommen kann ... (Auch einen Menschen den man mag muß man ggf. schon mal anschreien, heftig angehen ... vielleicht hört er sonst nicht ... und wenn er das nicht aushält ist es die Sache sozusagen nicht wert ... gute Beziehungen oder Verbindungen vertragen das, müssen das vertragen, sonst taugen sie nicht ...))
Karl May hat geschrieben:als er sich zu mir herumgedreht hatte, war ein so eigentümliches Leuchten in seinen Augen gewesen, als ob er sich zutraue, den stärksten und gefährlichsten Feind zu bezwingen.
Karl May hat geschrieben:Jetzt hatte ich gesehen, worin die Macht des Fraters lag, nämlich in seinen Augen.Diese hatten einen Glanz angenommen und einen Blick gehabt, welche beide ganz unbeschreiblich waren.
(Das waren beides Zitate über den Bruder Jaguar. Über die vermeintliche Witzfigur Lord Castlepool heißt es übrigens an einer Stelle im „Schatz im Silbersee“:
aus den Augen blitzte eine Intelligenz, eine Energie, welche den beiden andern die Worte benahm.
(im grünen Band gestrichen))

Anstaltspfarrer Kochta dürfte eine größere Rolle gespielt haben bei der Gestaltung der Figur des Bruder Jaguar. Auf die Stelle „Halt, Sie reiten ins Verderben“ haben in diesem Zusammenhang ja schon andere hingewiesen. Auch die Stelle, wo die beiden, May / Kochta bzw. Charley / Bruder Jaguar, auf dünnem Pfad über einen Sumpf gehen, erscheint mir in diesem Zusammenhang sehr wesentlich ... (ein Gleichnis. Des [geistigen] Sumpfes (der Abgründe; vgl. der von Robert Müller wiedergegebene Ausspruch Mays ... Zitat folgt separat) sind sie sich beide bewußt, aber der eine (Jaguar) vermag den anderen zu führen.) Und die Szene am Schluß, Sendador und Charley hängen überm Abgrund, der eine stürzt ab, der andere überlebt, und erwacht mit dem Kopf im Schoß des Bruder Jaguar ... (in meinen Augen ein symbolisches Bild für Geborgenheit in neuem Bewußtsein, „im Glauben“ erscheint mir nur bedingt richtig, daher „in neuem Bewußtsein“, unter Einfluß des Bruder Jaguar entstanden.)
Robert Müller, Nachruf auf Karl May (Auszug)

"Zu meinen letzten Tiefen", hat er einmal in einem seiner zwanglos geistigen Gespräche geäußert, "ist noch kaum jemand gereist. Ich selbst war an Abgründen und Verräterspalten. Ich war an den Grenzen des Menschlichen - ich war in den Rocky Mountains, wo nur wenige waren: in den geistigen. Ich bin auf Pfaden geklettert. Und - all das ahnen sie nicht." Sein Lächeln war damals milde und - schlaugut. Der Einsame kam sich reich vor in seinen seelischen Klüften und Bergen: er war einig mit seinen Menschlichkeiten, ein Glückstreffer, den nur die Schwergeprüften und die geistig Bereiften machen. Man könnte sagen, er hatte die geistvolle Bosheit der Güte.
nicht wirklich klar, was eigentlich so besonders an ihm ist, dass sich die Soldaten vor ihm fürchten. Es erschließt sich für mich absolut nicht, womit diese Angst begründet und gerechtfertigt ist.
Er durchschaut sie. (Sich und sie.) Er sagt wie’s ist. Er „blickt durch“. Das mögen sie nicht. (U.a. darum wurde Jesus gekreuzigt ...)
wäre bei Beibehaltung desselben der Bruder Jaguar zu einer Figur geworden, die alles in allem unseren Charly überragen könnte, zumindest in allen Fragen gleichwertig mit ihm wäre.
Er ist, gleichsam, eine Art Steigbügelhalter ... (natürlich auch mehr als das, aber das eben auch) Ohne ihn wäre Charley gescheitert, th’is clear. Das weiß er (Charley / May) und damit hat er überhaupt kein Problem. (Ich habe mal gelesen er ließe sich nichts sagen ... völliger Quatsch ... aber es muß halt der Richtige kommen, die Sache muß Hand und Fuß haben ... unqualifiziertes Geblubber läßt er sich freilich [sozusagen] nicht sagen ...)

Umfangreiche Ausführungen zum ‚Sendador’ (und allen anderen Werken Mays ...) mit zahlreichen Originalzitaten auch unter http://www.charlymay.npage.de, ( / Reiseerzählungen)

Zum Südamerika-Roman gibt es übrigens im Bücherforum (karl-may-buecher.de) eine Leserunde von 2006 (mit, wie ich heute beim Nachlesen feststellen konnte, atmosphärisch verblüffend bestem Einvernehmen unter Leuten, die mittlerweile meinen, nicht miteinander 'zu können' ... schade eigentlich. Aber wenn’s denn so ist, ist’s halt so.)
Zuletzt geändert von rodger am 21.1.2011, 13:49, insgesamt 1-mal geändert.
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rodger
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Re: Am Rio de la Plata / In den Cordilleren

Beitrag von rodger »

Nun noch zu einigen anderen Teilen Deines Beitrages,

darin, daß der Roman seine Stärken und – teilweise beträchtlichen - Schwächen hat, stimmen wir überein. Der Anfang ist stark, richtig gut, im Verlauf des ersten Bandes „schmiert’s“ dann richtig ab ... im zweiten geht’s in der Hinsicht sozusagen rauf und runter, mal so mal so ...

Den Turnerstick hat er zwischenzeitlich offenbar sozusagen vergessen, stimmt ... zu dem fiel ihm diesmal nichts ein ... er war wohl mehr mit der Jaguar – Sendador – Charley – Thematik beschäftigt ...

Interessant ist auch der Fußmarsch des Erzählers mit Pena (Kummer), das erinnert an einen vergleichbaren späteren [Fußmarsch] im „Silberlöwen“, Erzähler & Gefährte mal gleichsam „eine Nummer kleiner“ ...
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Helmut
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Re: Am Rio de la Plata / In den Cordilleren

Beitrag von Helmut »

Mich hat "seinerzeit" bei meiner Lektüre folgendes fasziniert. Ich möchte mich von damals zitieren:
Und folgende Beschreibung der Titelfigur, des Sendador:

Zitat:
Ich muß gestehen, daß es mir herzlich leid um ihn that. Was hätte dieser Mann bei seinen hohen Gaben, wenn er auf dem rechten Wege geblieben wäre, sein können,und was war er geworden, da sein Fuß die Irrwege des Verbrechens betreten hatte! Bei den Verhältnissen des Landes, in welchen er lebte, hätte er es zu hohen Ehrenstellen bringen können; nun aber stand er vor mir als ein ebenso gehaßter wie gefürchteter Verbrecher,...
Wäre es jetzt auf mich angekommen, wahrhaftig, ich hätte ihn gern gegen das Versprechen der Besserung laufen lassen.

Wen beschreibt er wohl mit diesen Worten? Ich denke sich selbst, sich selbst wenn er die "Laufbahn des Verbrechers" weiter gegangen wäre.
Und so ist es dann nur konsequent, dass dieser Sendador letzendlich "erlöst" wird, in diesem Roman dessen Hauptthema (hinter den Zeilen) eben Erlösung von Schuld ist.
Deshalb würde ich dies nicht zu den schwächeren Werken Mays rechnen, allerdings schient mir dies zu erklären, dass er wohl so seine Probleme beim Schreiben hatte.

Helmut
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rodger
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Re: Am Rio de la Plata / In den Cordilleren

Beitrag von rodger »

Interessant sind auch die Ausführungen von Reinhard Tschapke und Engelbert Botschen im Karl May -Handbuch (*) zu den Südamerikabänden. Nur das Wort 'unbewußt' auf S. 194 in der zweiten Zeile des zweiten Abschnittes (in der Königshausen & Neumann - Ausgabe. Die Besitzer der Kröner-Ausgabe finden es auf S. 231, ebenfalls in der zweiten Zeile des zweiten Abschnitts) halte ich für fehl am Platze, sicher, es mag auch ab und zu mal etwas unbewußt hineingeraten sein in Mays Schreiben, im Großen und Ganzen aber wird er sehr wohl gewußt haben, was er tat ... mittlerweile bezweifele ich ja seine spätere Aussage, er habe von Anfang an symbolisch geschrieben, überhaupt nicht mehr. Er hat halt auf mehreren Ebenen geschrieben, man kann es jeweils als Abenteuergeschichte lesen, und man kann es auch anders lesen. Und auf beide Arten gleichzeitig. (Auch die Formulierung "ledernen deutschen Helden" auf S. 194 3. Zeile von unten bzw. S. 232 6. von oben halte ich für etwas unpassend, hier überschätzt der Kommentator [sozusagen] eine kompensatorische Zutat unseres Autors bzw. unterschätzt dessen Fähigkeit zu 'gebrochener' Betrachtung der Dinge ... als so 'ledern' und 'heldisch' wie er zwischenzeitlich möglicherweise herüberkommt empfindet er sich gar nicht, sonst würde er nicht mit Pena zu Fuß gehen müssen und streckenweise sozusagen nicht durchblicken ...)

(* sollte der verstorbene Heinz Stolte sich erneut an dieser Schreibweise mit einmal Leerzeichen und einmal Bindestrich stören, wie in einer Buchbesprechung seinerzeit in einem Jahrbuch, oder vielleicht sonst noch jemand: so etwas muß nicht Unkenntnis gängiger Regeln, wie er (Stolte), sozusagen unter seinem Niveau, zu unterstellen geruhte, sondern kann auch deren bewußte Ignorierung sein. Es kann einem halt schon mal widerstreben, einen - besonderen - Namen durch dazwischengefriemelte Striche zu 'verschimpfieren' ...)
Rene Grießbach
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Re: Am Rio de la Plata / In den Cordilleren

Beitrag von Rene Grießbach »

rodger hat geschrieben:Umfangreiche Ausführungen zum ‚Sendador’ (und allen anderen Werken Mays ...) mit zahlreichen Originalzitaten auch unter http://www.charlymay.npage.de, ( / Reiseerzählungen)
Die Seite hab ich mir mal etwas näher durchgelesen. Gefällt mir und es bietet ne gute Gelegenheit, die Erinnerungen an die Romane nochmals aufzufrischen.
Und zumindest bei der allgemeinen Bewertung des Cordillerenbandes liegt unsere Meinung ja nicht soweit auseinander, nämlich dass es eher zu den schwächeren Werken zu zählen ist.

Nun, die Lektüre von deiner Zusammenfassung und auch das Zitat von Helmut führten bei mir auch mit dazu, dass ich mich an eine Stelle in der Sekundärliteratur erinnerte (kann sein, dass das in der Wohlgschaftbiografie war), in der sinngemäß zu lesen war, dass der Sendador eine Widerspiegelung May´s wäre wie so manche andere der Figuren in seinem Werk. Ich hab hinsichtlich der Südamerikabände bisher kaum Sekundärliteratur gelesen, aber so wie ihr das schreibt, scheint mir diese Einschätzung durchaus einleuchtend zu sein.

Im Bücherforum die Leserunde werde ich mir bei Gelegenheit mal durchlesen, zumindest teilweise.
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rodger
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Re: Am Rio de la Plata / In den Cordilleren

Beitrag von rodger »

Rene Grießbach hat geschrieben: dass der Sendador eine Widerspiegelung May´s wäre wie so manche andere der Figuren in seinem Werk.
Ja, so hätte der "geborene Verbrecher" werden können, wenn er nicht beizeiten einen anderen Weg eingeschlagen hätte ... und in dem Zusammenhang hat Kochta / Jaguar eine nicht unbedeutende Rolle gespielt.
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rodger
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Re: Am Rio de la Plata / In den Cordilleren

Beitrag von rodger »

„Am Rio de la Plata“ enthält übrigens im ersten Kapitel eine ganz großartige Stelle, die Mays Fähigkeit, ja Neigung zur Selbstironie – die ihm ja mangels entsprechender Wahrnehmung von Ignorantinnen & Ignoranten gemeinhin abgesprochen zu werden pflegt - sehr deutlich macht:
„Der Ueberbringer dieses Briefes hat sich mehrere Jahre lang unter den Indianern umhergetrieben, ein verwegener Kerl, dabei aber stockdumm und vertrauensselig, wie es von einem Dutchman auch gar nicht anders zu erwarten ist. Er will, glaube ich, nach Santiago und Tucuman und wird also durch die Provinz Entre-Rios kommen. Thun Sie, als ob Sie ihm ein Empfehlungsschreiben an Jordan geben, welches aber die beiden Kontrakte enthalten wird. Findet man sie bei ihm und er wird erschossen, so verliert die Welt einen Dummkopf, um welchen es nicht schade ist. Natürlich dürfen die Dokumente Ihre Unterschrift nicht enthalten; Sie unterzeichnen vielmehr erst dann, wenn Sie dieselben durch einen Boten Jordans zurückerhalten.
Am übrigen wird der Dutchman Ihnen nicht viele Beschwerden machen; er ist von einer geradezu albernen Anspruchslosigkeit. Ein Glas sauren Weins und einige süße Redensarten genügen, ihn glücklich zu machen.“
Das liest er in einem Brief über sich selber …

Er könnte sich ja nun wie ein wildgewordener Gartenzwerg furchtbar aufregen, von persönlichen Beleidigungen u.ä. quaken, aber es geht halt auch anders, der Leser hat das Gefühl, er freut sich geradezu, [[der Leser] sieht beim Lesen geradezu das schelmische Leuchten in des Verfassers Augen,]
Ich steckte den famosen Brief in das Couvert zurück und stellte mit Hilfe eines Streichholzes das zersprungene Siegel wieder her. Dann machte ich mich auf den Weg zu dem lieben Kompagnon
(der Bearbeiter in Band 12 hat seinerzeit „famosen“ und „lieben“ gestrichen, entweder kam er selber mit der Mayschen Doppelbödigkeit & Mentalität nicht zurecht oder wähnte die Leser damit überfordert …)

Nun könnten Cardauns & Consorten nach dem Lesen einer solchen Passage, sozusagen der reduzierten Struktur ihrer Hirnwindungen entsprechend, freilich so etwas denken wie „Jetzt ist er auch noch stolz darauf“, „unbelehrbar uneinsichtig“ o.ä, da Mays Art, mit den Dingen umzugehen, etwas zeigt, was ihnen halt fehlt und nachzuvollziehen vermutlich verwehrt bleiben wird: eine gewisse Größe, oder nennen wir es eine gewisse entspannte Einsichtsfähigkeit & Objektivität, damit es einigen schlicht strukturierten Ohren nicht gleich wieder zu „groß“ klingt …. Auch der ('Größe' bzw. E & O, s.o.) war er sich bewusst, und hatte kein Problem damit, mal das eine (Schwächen aller Art) und mal das andere ('Größe' u.ä., s.o.) bei sich selber zu sehen und auch verlauten zu lassen. Seine Mitmenschen freilich waren damit, aufgrund der – [m.E.] sonderbaren (bitte genau hingucken, „sonderbaren“ bezieht sich auf „Unüblichkeit“ und nicht etwa auf „Treibens“) - Unüblichkeit solchen Treibens, meerschtenteels überfordert … (u.a. deshalb hat May dann irgendwann nicht mehr für den „Guten Kameraden“ geschrieben und sich schwerpunktmäßig auf Fehsenfeld konzentriert, könnte man noch anfügen, aber wir wollen nicht zuviel in einen Beitrag packen …)
markus
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Re: Am Rio de la Plata / In den Cordilleren

Beitrag von markus »

Und gerade diese beiden Begriffe sind es doch an denen man erkennen kann, was er von dem Brief zu halten hat.
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rodger
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Re: Am Rio de la Plata / In den Cordilleren

Beitrag von rodger »

Jenun ... das Übelgesonnene des Briefes, die Haltung desselben wird er weniger "famos" finden bzw. dieses Wort in der Hinsicht eher ironisch gebrochen verwenden ... und "lieb" in ähnlicher Weise wie z.B. bei "mein lieber Freund und Kupferstecher" ...

Aber inhaltlich wird er teilweise durchaus zustimmen, davon bin ich überzeugt ... das mit dem sauren Wein z.B. steht nicht von ungefähr da. Im Gesamtwerk Mays und auch in biographischen Schriften gibt es immer wieder Stellen, an denen er darauf hinweist, daß er in Sachen Essen, Kleidung u.a. eher ein "schlichtes Gemüt" ist und das Einfache allem seinerseits als verzichtbar "Hochgestochen" angesehenen vorzieht ...

Und eine - m.E. eher sympathische als sonst etwas - gewisse [partielle !] Leichtgläubigkeit , die ebenfalls angesprochen wird, wird er ebenfalls an sich wahrgenommen haben ...
rainer gladys
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Re: Am Rio de la Plata / In den Cordilleren

Beitrag von rainer gladys »

Sorry, aber das ist doch keine Selbstironie sondern nur die allgegenwärtige Fehleinschätzung unseres Helden durch Leute, die er das erste Mal trifft. May, bzw. der Erzähler, hat ja immer eine diebische Freude daran, von anderen unterschätzt zu werden. Und so kann man das "famos" auch als Genugtuung darüber interpretieren, dass er mal wieder jemanden getäuscht hat...
markus
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Re: Am Rio de la Plata / In den Cordilleren

Beitrag von markus »

rainer gladys hat geschrieben:Sorry, aber das ist doch keine Selbstironie sondern nur die allgegenwärtige Fehleinschätzung unseres Helden durch Leute, die er das erste Mal trifft. May, bzw. der Erzähler, hat ja immer eine diebische Freude daran, von anderen unterschätzt zu werden. Und so kann man das "famos" auch als Genugtuung darüber interpretieren, dass er mal wieder jemanden getäuscht hat...
Das ist es oftmals in Mays Werk, aber in diesem Falle ist es primär so wie es Rüdiger beschreibt. Aber sehr wohl wußte (oder ahnte) er auch, daß der Absender ihn nicht ganz wohl gesonnen ist, daher auch das zweideutige "famos" und "lieben". Jedoch wars ihm im Grunde Wurscht was man von ihm hielt, er wußte es ja besser.
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rodger
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Re: Am Rio de la Plata / In den Cordilleren

Beitrag von rodger »

rainer gladys hat geschrieben:Und so kann man das "famos" auch als Genugtuung darüber interpretieren, dass er mal wieder jemanden getäuscht hat...
Das kann man, ja ... aber ob man damit unbedingt richtig liegt, dürfen wir mal dahingestellt sein lassen ... In meinen Augen ist es (das Wort "famosen") eindeutig Ironie bzw. ironisch gebrochene Betrachtung.

Die ganze Stelle mit dem Brief ist in meinen Augen die reine Selbstironie. (Und offenbar so geschickt verpackt, daß sie gar nicht wahrgenommen wird ...) Siehe Beitrag oben. Daß die Leut' (die Personen in der Erzählung) sich in ihrer Einschätzung irren, indem sie halt eine Seite der Medaille für das Ganze nehmen, steht auf einem andern Blatt ... Er selber weiß, was er kann und was er nicht kann, weiß um seine Stärken und Schwächen, und daher hat er kein Problem damit, bei den Schwächen "hinzugucken", sich ihrer bewußt zu sein, wertungsfrei draufzuschauen und sich zu sagen "Ja, so bin ich" ... Und es gibt ja wahrlich 'Schlimmeres' als Anspruchslosigkeit in äußeren Dingen wie Speis' und Trank oder eine gewisse Leichtgläubigkeit, um die es in jenem Brief geht ...

Die Sache mit dem Unterschätztwerden wird er nicht immer so humorig empfunden haben, wie er das in seinen Büchern herüberbringt ... Und noch an die hundert Jahre nach seinem Tod ist es so, er gilt als Jugend- oder Trivialschriftsteller, bei dem es um Cowboys und Indianer geht ... das Unterschätzen höret nimmer auf. Kann man nichts machen. Dazu fällt mir um die eine oder andere Ecke eine Stelle bei Hans Wollschläger ein, die ich gestern gelesen habe, Von Sternen und Schnuppen II, S. 239 rechts unten, "Am Ende" usw., "daß man seinem Verfasser manchmal wie einem Kind über den Kopf streichen möchte", das hat er schön gesagt, der Hans. Der kann's.
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Re: Am Rio de la Plata / In den Cordilleren

Beitrag von rainer gladys »

Man kann doch nicht alles, was ein anderer Negatives über den Protagonisten (der hier ja gern mit dem Autoren gleichgesetzt wird) sagt, als Selbstionie bezeichnen. Ja, wenn der Erzähler diesen Brief selbst geschrieben hätte...
Mit dieser Argumentierweise könnt ihr auch jede kritische oder abfällige Äußerung dem Protagonisten gegenüber zur Selbstkritik stilisieren.
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rodger
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Re: Am Rio de la Plata / In den Cordilleren

Beitrag von rodger »

rainer gladys hat geschrieben:Man kann doch nicht alles, was ein anderer Negatives über den Protagonisten (der hier ja gern mit dem Autoren gleichgesetzt wird) sagt, als Selbstionie bezeichnen.

Nein, nicht alles. Aber vieles.

Ich bin nun mal der Meinung, daß es bei Karl May in hohem Maß um die Auseinandersetzung mit sich selbst geht ...

Und so kommt an der Stelle mit dem Brief - für mich eindeutig, unstrittig, Sie mögen das anders sehen - Selbstironie herüber, eine milde Form besagter Auseinandersetzung, an anderen Stellen, wie z.B. der langen Rede des Münedschi in "Am Jenseits", nachdem der den Erzähler bespuckt hat, eine weitaus herbere und "ans Eingemachtere" gehende Form dieser Auseinandersetzung ...
Ja, wenn der Erzähler diesen Brief selbst geschrieben hätte...
Hat er. Der Erzähler Karl May hat sich diesen Brief über sich selber ausgedacht, und Dinge darin stehen lassen, die teilweise zutreffen.
Mit dieser Argumentierweise könnt ihr auch jede kritische oder abfällige Äußerung dem Protagonisten gegenüber zur Selbstkritik stilisieren.
Ja, in der Tat. Wobei es etwas simpel und sicher auch unangemessen wäre, "jede" Stelle so zu sehen ... Ich erlaube mir halt, diese Stelle so, jene anders und die nächste sonstwie zu deuten. Sie mögen das auf Ihre Weise ebenso tun. Wer "Recht hat", bleibt offen.

Was das Gleichsetzen des Erzählers mit dem Autoren betrifft: mal ja, mal nein, mal teilweise, mal mehr, mal weniger ... siehe oben: diese Stelle so, jene anders ... Ist nicht leicht. Aber schön. Wird übrigens von Leuten, die mit dieser "Richtung" nicht allzu viel "am Hut" haben, gern als Geschwurbel, Küchenpsychologie oder weltanschauliche Schwadronage bezeichnet. Nennen Sie's wie Sie wollen.
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