Oberflächliche These in TV-Magazin

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rodger
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Oberflächliche These in TV-Magazin

Beitrag von rodger »

Reißerisch vorgetragenes von Guido Knopp zu Karl May gibt’s hier:

http://www.tvdigital.de/magazin/digital ... l-karl-may

Eine Stelle, diese:
Irgendwann verlor er dann die Kontrolle über seine Fantasie, konnte Traum und Realität nicht mehr auseinanderhalten.
sei kommentiert:

Das ist falsch.

Was Karl May in hohem Maße hatte, war Empathie (nicht zu verwechseln mit Emphase, empathisch ist nicht emphatisch, und auch bitte nicht mit „Mitgefühl“ und dergleichen), Einfühlungsvermögen, die Fähigkeit zur Perspektivenübernahme: sich in andere hineinzuversetzen, in andere Menschen oder aber auch in andere Realitäten, z.B. in die Erlebniswelt von Phantasiefiguren ...

Ich gehe davon aus, daß es der Wahrheit entspricht, was berichtet wird: daß er beim Sprechen über Winnetous Tod oder beim Versuch, Halef literarisch sterben zu lassen, in Tränen ausbrach. Das hat aber nun überhaupt nichts damit zu tun daß er die Dinge nicht mehr hätte auseinanderhalten können ...

Ein begabter Schauspieler weint ggf. sozusagen auf Kommando echte Tränen. Ein Zuschauer eines bewegenden Filmes mag ebenfalls weinen, aber einen Moment später wird ihm [vielleicht] bewußt sein, daß da eine Kamera lief, Leute gelernten Text aufs Stichwort sprachen usw. Beim autogenen Training kann sich sehr schnell und ausgepägt das Gefühl von Schwere und Wärme einstellen. [Usw.] Sich einerseits sehr hineinversetzen in die entsprechenden Angelegenheiten und im nächsten Augenblick völlig kontrolliert umschalten können muß sich keineswegs ausschließen.

Es wird von Kriegserlebnissen berichtet, daß fälschlich Gasalarm ausgelöst wurde und die Leute dann tatsächlich Gas gerochen haben, bis hin zu körperlichen Symptomen wie Husten oder nach Luft schnappen ... das ist dieses „als ob“. Oder z.B. die schon beim Schach- oder Billardspiel gemachte Erfahrung, das Drumherum der Außenwelt regelrecht nicht mehr mitzubekommen, weil die Aufmerksamkeit völlig auf vierundsechzig Felder oder grünen Filz und Kugeln fokussiert war ... Will sagen: man kann sich ggf. gleichsam völlig „wegbeamen“ und im nächsten Moment wieder voll da sein ...

Also: Karl May konnte sehr wohl die verschiedenen Realitäten (Ebenen) auseinanderhalten. Er konnte aber sozusagen nach Belieben „in ihnen unterwegs sein“ ...
»Kann man nur dann sehen, wenn man die Lider öffnet? Schließ deine Augen, Hanneh, und versetze dich in das Lager des Haddedihn?«

»Ich thue es,« nickte sie, indem sie die Augen zumachte.

»Geh jetzt zu deinem Zelte!«

»Ich sehe es.«

»Deutlich?«

»Ja, ganz genau so, wie es ist. Der Vorhang ist zurückgeschlagen; der helle Teppich glänzt heraus; mein Hündchen sitzt darauf. Im Nebenzelte bäckt man Brot. Ich sehe den dünnen Rauch, und ich rieche --- ja, Sihdi, ich rieche, daß der Teig sich schon zu bräunen beginnt. Ich rieche es wirklich, gewiß, wahrhaftig! Ist das nicht sonderbar?«

»Nein, gar nicht sonderbar! Deine Seele war jetzt dort! Wer das nicht begreift, der nennt es Phantasie.«

(Im Reiche des Silbernen Löwen III)
Zwockel

Re: Oberflächliche These in TV-Magazin

Beitrag von Zwockel »

Was erwarten Sie denn von Guido Knopp? Alles was der macht ist oberflächlich.

Im Vergleich zu Knopp gehören Ihre Sachen zur dokumentarischen Hochliteratur.
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Helmut
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Re: Oberflächliche These in TV-Magazin

Beitrag von Helmut »

Gehen wir mal weg von dem Knopp, der ist ja auch (für mich) weiter gar nicht interessant.
Ich mag Dir, Rüdiger, ja gerne folgen in Deiner Argumentation und nach meiner Meinung ist sie ja auch richtig; mit einer kleinen Ausnahme, genauer ein Punkt, der für mich nicht damit zusammenpasst.
Ich habe mir nämlich zu meinem (besseren) Verständnis die Geschichte mit den Zusammenbrüchen auf der Orientreise bisher so "zusammengereimt", dass das Orientbild, das er in seinen Büchern beschrieb, und das er sich ja auch aus anderen Büchern angelesen hatte, nicht im mindesten mit der gesehenen und gefühlten Wirklichkeit übereinstimmte; und dass er selber (May) in dieser Wirklichkeit ein völlig Anderer, selbst nicht Handelnder sondern auf Andere angewiesener, also passiv und auch ein wenig hilfloser Tourist war.
Er hatte ja, so wie ich das sehe, diese Orientreise auch (wohlgemerkt "nur auch") deshalb unternommen um seinen Lesern zu zeigen, dass er eben dort (im Orient) als tätiger Mensch agieren konnte; deshalb wohl auch am Anfang der Reise die vielen Karten. Und das hat er wohl doch bald gemerkt, dass das nicht funktionierte.
(Es war ihm natürlich klar, dass sein "Orient" in Sachsen lag, aber trotzdem.)
Und das alles, so habe ich mir das bisher immer einigermaßen zusammen gereimt führte zu dem mehrfachen psychischen Zusammenbruch.
Einige Jahre später, bei der Amerikareise, waren diese Illusionen schon verschwunden (nur Klara hatte sie vielleicht noch), so habe ich zumindest beim Anblick der "amerikanischen" Fotos empfunden, die mir immer ein leicht melancholisches (aber realistischeres) Gefühl vermitteln.

Helmut
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rodger
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Re: Oberflächliche These in TV-Magazin

Beitrag von rodger »

Ich verstehe jetzt nicht wo der Widerspruch zu den Ausführungen zur [nennen wir es] Empathie sein soll ...

:roll:

(will in etwa sagen, das sind doch zwei Paar Schuh', das vermeintliche 'Traum'-und-'Realität'-nicht-mehr-auseinanderhalten-können und die Krise der Orientreise.)

Rein empathisch :mrgreen: sehe ich den Grund für die Krise auf der Orientreise (ähnlich wie Du) zu einem großen Teil im Konfrontiertwerden mit sozusagen der eigenen Unbedeutendheit ... Da bist du in deinen Büchern jahrzehntelang der große Kara Ben Nemsi und vor Ort beachtet dich sozusagen kein Schwein ... und die Eindrücke entsprechen überhaupt nicht denen die du beim Schreiben deiner Phantasiegeschichten, beim Tummeln in deiner Phantasiewelt hattest ...
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rodger
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Re: Oberflächliche These in TV-Magazin

Beitrag von rodger »

Dazu fällt mir noch ein, daß ich (am 4. Oktober 2005) im Bücherforum das Folgende abgesondert habe:
Kairo. Vielleicht begann Karl May hier endgültig einzusehen, dass sein unbekömmliches Sich-selbst-hochstilisieren, entstanden aus übersteigertem Geltungsbedürfnis, dies wiederum resultierend aus Überkompensation einer Kette von Niederlagen und Demütigungen, die sich duch sein ganzes Leben zogen, der nüchternen Realität nicht standhielt.

Hier in der quirligen Metropole war er einer unter vielen, die, im Gegensatz zu ihm, kein großes Aufhebens um sich machten, und der große Kara Ben Nemsi musste deutlich erkennen, wie unbeholfen, unsicher und gehemmt er abseits seines Schreibtisches, wo er, Herr über Tinte und Papier, glaubte, ungezügelt machen zu können was er wollte, und dementsprechend oft über alle vertretbaren Ziele hinausschoß, in fernen Zonen sein konnte.

Und so war es nach der Orient-Reise vorbei mit Old Shatterhand und Kara Ben Nemsi im alten Stil, der Ton wurde friedvoller, die Haltung angemessener, bescheidener, ein bisschen weiser. Wenn einer eine Reise tut ...

Also, ich find's gar nicht so traurig mit der Orientreise. Eher heilsam.
Wobei noch anzumerken ist, daß es so heilsam bei Karl May ja gar nicht war ... er hat noch jahrelang immer wieder ganz ähnliche Fehler begangen ... wer kann schon aus seiner Haut ... manches braucht seine Zeit ...

8)
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Helmut
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Re: Oberflächliche These in TV-Magazin

Beitrag von Helmut »

Du hast ja recht, ...

Ich werde nachher mit einem Glas Apfelschorle auf Dich anstoßen, und dass wir wieder einen Punkt der Einigkeit gefunden haben.

Helmut
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rodger
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Re: Oberflächliche These in TV-Magazin

Beitrag von rodger »

O Gott, wie rührt mich dies!
Ich werde dein gedenken
Des Morgens beim Kaffee,
Wenn ich dir ein will schenken,
Die leere Tasse seh.
Kann keinen Gruss dir winken.
Aus Jammer werd ich g'wiss
Ihn schwarz und bitter trinken! - Ach!

:lol:
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