Wollschlägers Urszenen-These – eine Überprüfung vor Ort

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Ralf Harder
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Wollschlägers Urszenen-These – eine Überprüfung vor Ort

Beitrag von Ralf Harder »

Aus dem Internetbeitrag „… drei Stockwerke hoch …“ von Harald Mischnick:
Ich ging den Leichenweg hinab, über den Markt hinüber und öffnete leise die Tür unseres Hauses, ...
»Wie siehst du aus! Schnell wieder fort, fort, fort! ...«

Hans Wollschläger meint […], daß jene Worte nicht Karl [May], sondern einem von ihm postulierten Geliebten der Mutter gegolten hätten. […] Wollschläger führt an, daß sich die von ihm so genannte Urszene nicht im Jahre 1869 abgespielt haben könne. […] Weiterhin postuliert Wollschläger, daß die angebliche Urszene sich in voller Länge so wie beschrieben ereignet habe, allerdings viele Jahre vor 1869 und mit Karl als nur passivem, lauschenden Zuhörer. Seine Rekonstruktion der Örtlichkeit liest sich folgendermaßen:

»Wer in Ernstthal den Leichenweg hinab kam, mußte nicht über den Markt hinüber gehen, um in das Haus neben der Kirche St. Trinitatis zu gelangen, in dem die Familie May seit dem April 1845 wohnte; er mußte es aber tun, wenn es ihn weiter geradeaus in die Niedergasse zog, auf das Haus zu, in dem May geboren wurde und seine frühe Kindheit verbrachte.«

Wollschläger vermutet, daß der kleine Karl 1844/45 die Lauscherfahrung machte, seine Mutter habe ihre Zuneigung von ihm abgezogen und »einen Geliebten gehabt«. Wollschlägers Ausführungen sorgten seinerzeit für großes Aufsehen und Dispute, werden aber bis heute immer noch bei Veröffentlichungen herangezogen, obgleich sie der Örtlichkeit wegen auf wackligen Füßen stehen.

[…] um zur Tür unseres Hauses zu gelangen, so mußte er [May] durchaus nicht in die Niedergasse wollen, denn über den Markt hinüber muß nicht mit ‘gerade hinüber’ im mathematischen Sinne gleichzusetzen sein, sondern kann im normalen Sprachgebrauche ebensogut ‘schräg hinüber’ bedeuten, denn exakt geradeaus über den Marktplatz in die Niedergasse kommt man bis heute vom Leichenweg her schon allein der Kirche wegen nicht, sondern muß in leichtem Bogen über ihn gehen und zudem eine diesen mit der jetzigen Karl-May-Straße verbindende Gasse durchwandern.
http://www.karl-may-stiftung.de/mischnick3.html
Soweit Harald Mischnicks Ausführungen. Neulich hatte ich die Gelegenheit, Ernstthals Örtlichkeiten zu überprüfen. Das Resultat: Wollschlägers Urszene ist in der Tat eine logistische Unmöglichkeit. Denn man muss sogar mehr als nur einen leichten Bogen gehen, wie Mischnick schreibt, um zum Geburtshaus (Karl May Haus) zu gelangen. Wenn man den Leichenweg (heute Bergstraße) in südlicher Richtung verlässt, kann man ganz und gar nicht direkt geradeaus die Niedergasse (heute Karl-May-Straße) erreichen. Man muss sich zunächst ein Stück nach links wenden und kommt dann erst über die Mittelstraße zum Geburtshaus. Eine gerade Überquerung über den Marktplatz ist damals wie heute völlig ausgeschlossen. Die St. Trinitatiskirche und die dahinter liegenden Bauten des Marktplatzes versperren die Sicht zur Karl-May-Straße. Das Haus am Marktplatz, in dem May mit seinen Eltern 1869 neben der Kirche lebte (später abgebrannt), konnte allerdings vom Leichenweg gesehen werden, somit war eine direkte Überquerung des Marktplatzes dorthin möglich. Und diese Stelle kann auch heute noch direkt vom ehemaligen Leichenweg geradlinig erreicht werden. Wer dorthin will, geht gewiss den geraden - den kürzesten Weg - und geht nicht einen Umweg außen um den Marktplatz herum!

Zwei aktuelle Fotos verdeutlichen die örtlichen Gegebenheiten. Die Aufnahmen entstanden vor der Einmündung der Bergstraße (Leichenweg).

Bild 1:
Bild

Bild 2:
Bild

Bild 1 zeigt die Örtlichkeit, wenn man geradeaus die Bergstraße verlässt und Bild 2, wenn man sich etwas halbrechts wendet. Dort, wo sich auf Bild 2 das zweite Haus von rechts befindet, stand einst das Haus, in dem May mit seinen Eltern lebte. Eine direkte Überquerung des Marktplatzes (schräg hinüber) ist eindeutig möglich, zum Geburtshaus unmöglich. Wollschlägers Urszenen-These (Jb-KMG 1972/73) ist deshalb aus logistischen Gründen unhaltbar.

Ralf Harder
Zuletzt geändert von Ralf Harder am 25.9.2004, 15:28, insgesamt 1-mal geändert.
Gast

Beitrag von Gast »

Sehr interessante Ausführungen. Ich hoffe nicht, daß diese dazu dienen sollen, Herrn Wollschläger in ein falsches Licht zu rücken und ihn zu demontieren. :roll:

Viele Grüße
Kurt Altherr
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Ralf Harder
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Beitrag von Ralf Harder »

Kurt Altherr hat geschrieben:Sehr interessante Ausführungen. Ich hoffe nicht, daß diese dazu dienen sollen, Herrn Wollschläger in ein falsches Licht zu rücken und ihn zu demontieren.
Diese Rubrik lautet: "Seine Biografie – 1842-1912". Es geht hier also nicht darum, H. Wollschläger in ein falsches Licht zu rücken oder gar zu demontieren. Dass man diverse Beiträge in der May-Forschung auf ihre Richtigkeit hinterfragt, sogar hinterfragen muss, dürfte doch selbstverständlich sein.

Beste Grüße, Ralf Harder
Thomas Schwettmann

Beitrag von Thomas Schwettmann »

Hallo, Herr Harder!

Über die Sinnhaftigkeit der Urszenen-Hypothese von Wollschläger läßt sich gewiß vortrefflich streiten, zumal danach diese Szene als noch vor dem Umzug zum Marktplatz stattgefunden haben müßte, also von einem bestenfalls dreijährigen May erlebt worden wäre, zu einer Lebenszeit also, an die Erinnerung von Menschen generell eher sehr schwach ist, und bei der May sich zumal in der Erinnerung als blind beschreibt.

Daß nun May in seiner Erinnerung an die Ereignisse von 1869 den Weg aus dem Wald so schildert - (...) Ich ging den Leichenweg hinab, über den Markt hinüber und öffnete leise die Tür unsers Hauses (...) , daß die Wegbeschreibung mit dem Ziel des Hauses am Marktplatz im Einklang steht, ist indessen völlig klar, schließlich ist May ja bewußt, daß es um 1869 geht. In Wollschlägers Interpretation geht es lediglich darum, daß die Formulierung über den Markt hinüber zweideutig ist, Wollschläger schreibt, daß man nicht über den Markt hinüber gehen muß (was aber impliziert, daß man durchaus kann), um in das Haus neben der Kirche St. Trinitatis zu gelangen, daß man es aber tun muß, wenn man in die Niedergasse will - was auch nicht ganz richtig ist, weil man theoretisch ebenso an den dem Platz eingrenzenden Straßen entlang gehen kann. Abschließend zur Bewertung der Wegbeschreibung schreibt Wollschläger ja schließlich auch: Diese Indizien sind nicht überzubewerten

Wesentlich ist also, daß Wollschlägers 'Urszenen'-These, was er wie zitiert selber auch anmerktt, keinesfalls davon abhängig ist, ob seine Interpretation von über den Markt hinüber richtig oder falsch ist. Zum einen ist die Formulierung tatsächlich so unpräzise, daß damit jegliche Art von Querung des Marktes gemeint sein könnte. Zum anderen muß in jedem Falle die Wegbeschreibung oberflächlich mit dem realen Weg von 1869 übereinstimmen, da man ja auch dann, falls die Urszenen-These richtig wäre, davon ausgehen muß, daß May eine frühere Erinnerung in den späteren Kontext von 1869 projiziert hätte. Insofern konnte May die Mittelstraße in seiner Wegbeschreibung gar nicht erwähnen, ohne daß im die Fehlerhaftigkeit seiner Erinnerung dabei zu Bewußtsein gekommen wäre.

Im übrigen würde die fehlende Erwähnung des Gäßchens selbst dann nichts Signifikantes bedeuten, wenn die Beschreibung nicht mit einer so problematischen Interpretation zusammenhinge. So erwähnt May bei der Erinnerung an seine Flucht nach Spanien auch nicht die kleine westliche Parallelgasse zur Mittelstraße, die zwischen Marktplatz und Niedergasse (jetzige Karl-May-Strasse) liegt: (...) und ging dann gedämpften Schrittes den Marktplatz hinab und die Niedergasse hinaus, den Lungwitzer Weg (...). Ohne die Örtlichkeit (mindestens von einem Stadtplan her) zu kennen, könnte man hier genauso gut die Idee kommen, der Marktplatz grenze im Süden direkt an die Niedergasse.

Wie gesagt, ich möchte hier keinesfalls der 'Urszenen'-Theorie das Wort reden, zumal mir eine solche entscheidene einzigartige Prägeerfahrung doch so etwas wie ein pschoanalytische Klischee zu sein scheint, welches in der Praxis nur vergleichsweise selten in reiner Form existieren dürfte (dazu fällt mir etwa solch überdramatisierte Filmszenen wie in Hitchcocks 'Marnie' oder in 'The Seven-Percent-Solution/Kein Koks für Sherlock Holmes'ein), aber nur aufgrund dieser oder jener Interpretation der Phrase über den Markt hinüber diese These für richtig oder falsch zu erklären, erscheint mir doch etwas zu vorschnell.

Das Interessante an Mays Darstellung seiner Ernsthaler Zeit zwischen den Gefängnisaufenthalten zu Osterstein und Waldheim scheint mir vorallem zu sein, daß er in ÄMein leben und Streben' mit keinem Wort erwähnt, was sich nachprüfen läßt - also seine Betrügereien, der Fluchtbrief (mit den Burtons nach Amerika), die Wadenbach-Posse - während daß, was er berichtet - die Kletterpartie im Steinbruch, das Feuer, als dessen Verursacher er angeblich beschuldigt wurde - sich nicht nachweisen läßt.

Falls doch noch eine frühe 'Wanda'-Version von Anfang der 60er Jahre gefunden würde, ließe sich vielleicht etwas Licht in diese Angelegenheit bringen: Da es jedenfalls mehr als wahrscheinlich erscheint, daß die in 'Mein Leben und Streben' geschilderten Ereignisse in Steinbruch und beim Brand des Hauses in den ersten beiden 'Wanda'-Kapiteln literarisch verarbeitet wurden, müßte man im Falle, daß ein auf 1860-64 datierter 'Ur-Wanda'-Text diese Szenen enthalten würde (was rein vom Aufbau der Erzählung her durchaus Sinn machen würde), davon ausgehen, daß auch die in 'Mein Leben und Streben' wiedergegebenen Erlebnisse früher stattgefunden hätten und in der Erinnerung falsch datiert worden wären. Bloß sind solche Gedankenspiele zum jetzigen Zeitpunkt reine Spekulation.

Viele Grüße,
Thomas Schwettmann
Zuletzt geändert von Thomas Schwettmann am 26.9.2004, 17:02, insgesamt 1-mal geändert.
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Ralf Harder
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Beitrag von Ralf Harder »

Im übrigen würde die fehlende Erwähnung des Gäßchens selbst dann nichts Signifikantes bedeuten, wenn die Beschreibung nicht mit einer so problematischen Interpretation zusammenhinge. So erwähnt May bei der Erinnerung an seine Flucht nach Spanien auch nicht die kleine westliche Parallelgasse zur [Mittelstraße], die zwischen Marktplatz und Niedergasse (jetzige Karl-May-Strasse) liegt: (...) und ging dann gedämpften Schrittes den Marktplatz hinab und die Niedergasse hinaus, den Lungwitzer Weg (...). Ohne die Örtlichkeit (mindestens von einem Stadtplan her) zu kennen, könnte man hier genauso gut die Idee kommen, der Marktplatz grenze im Süden direkt an die Niedergasse.
Hallo Herr Schwettmann,

da gibt es einen feinen Unterschied. Vom Wohnhaus, in dem Karl May 1869 lebte, kann man in exakt gerader Linie zur Niedergasse (Karl-May-Straße) gehen, was vom Leichenweg (Bergstraße) nicht möglich ist. Man muss sich erst ein Stück nach links und dann nach rechts wenden, um über die Mittelstraße (gestern schrieb ich irrtümlich Braugasse, dort stand die Lügenschmiede, was ich oben inwischen korrigiert habe), die Niedergasse zu erreichen.

Befindet man sich zwischen der Trinitatiskirche und dem ehemaligen Wohnhaus Mays (vor 1900 abgebrannt) kann man direkt auf die Niedergasse blicken. Somit ist es erklärlich, warum May die kurze Verbindungsstraße zwischen Marktplatz und Niedergasse nicht in seiner Autobiografie erwähnt hat.
Wie gesagt, ich möchte hier keinesfalls der 'Urszenen'-Theorie das Wort reden, zumal mir eine solche entscheidene einzigartige Prägeerfahrung doch so etwas wie ein pschoanalytische Klischee zu sein scheint, welches in der Praxis nur vergleichsweise selten in reiner Form existieren dürfte [...], aber nur aufgrund dieser oder jener Interpretation der Phrase über den Markt hinüber diese These für richtig oder falsch zu erklären, erscheint mir doch etwas zu vorschnell.
Um von der heutigen Bergstraße die Mittelstraße (Verbindungstraße zum Geburtshaus) erreichen zu können, muss man nicht, wie Wollschläger meint, über den Marktplatz gehen. Von dieser Seite kann man allenfalls nur einen kleinen Zipfel des Platzes überqueren, weil die Kirche im Weg steht. Es sei denn, die nördliche Seite des Marktpatzes war zu Mays Zeiten noch nicht als Straße - Übergang Herrmannstraße zur Pölitzstraße - ausgebaut. Dann wäre ein Betreten des Marktplatzes vom Leichenweg kommend immer notwendig gewesen. Zu keinem Zeitpunkt bestand jedoch Sichtkontakt zum Geburtshaus. Somit war eine direkte Überquerung zum Geburtshaus nicht möglich.

Ferner sei hier noch einmal Harald Mischnick zitiert:
Die Ortsbesichtigung des Geburtshauses nährt die Zweifel an Wollschlägers Urszenenrekonstruktion. Hätte Mays Mutter seinerzeit einen Geliebten gehabt und in ihr Schlafzimmer gelassen, so erhebt sich für die Nachtstunden automatisch die Frage nach dem Aufenthaltsort des Vaters. Tagsüber wäre kein Fremder der Aufmerksamkeit der Kinder entgangen. In jener Zeit, die für Wollschläger infrage zu kommen scheint, war die ältere Tochter bereits schulpflichtig und die jüngere ein stark die Mutter beschäftigendes Kleinkind, das vielleicht noch nicht einmal in der Nacht durchschlafen konnte. Außerdem mußte jeder, der auf der Niedergasse in das elterliche Schlafzimmer wollte, an der Stubentür der Mutter des Mannes im Erdgeschoß vorbeischleichen, den Raum, in welchem die Kinder schliefen, durchqueren, über jede knarrende Bohle vorinformiert und gewärtig sein, daß die Kinder etwas mitbekamen und sich ahnungslos gegenüber dem Vater verplapperten.
Es sei noch hinzugefügt, dass das Geburtshaus nur 4,25 Meter breit ist. Wie will man dort ernsthaft einen Liebhaber vor den Mitbewohnern verbergen? Ich bleibe deshalb dabei: Wollschlägers Urszene ist eine logistische Unmöglichkeit.

Mit besten Grüßen
Ralf Harder
Zuletzt geändert von Ralf Harder am 26.9.2004, 13:21, insgesamt 2-mal geändert.
Gast

Beitrag von Gast »

Die Beiträge von Herrn Harder zeigen doch recht eindrucksvoll, daß Herr Walter Ilmer sein Mentor war. Schön, wenn der Schüler zeigt, was er gelernt hat.
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Ralf Harder
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Beitrag von Ralf Harder »

Kurt Altherr hat geschrieben:Die Beiträge von Herrn Harder zeigen doch recht eindrucksvoll, daß Herr Walter Ilmer sein Mentor war. Schön, wenn der Schüler zeigt, was er gelernt hat.
Hallo Herr Altherr,

Herr Ilmer war nicht mein Mentor. Ist das alles, was Ihnen hier im Forum einfällt? - Ich schätze mehr Roxin und Plaul.

Beste Grüße, Ralf Harder
Gast

Beitrag von Gast »

Hallo Herr Harder,

nun, da haben wir eine Gemeinsamkeit. Herrn Plaul halte ich neben Ekkehard Bartsch ich für den kompetentesten Karl-May-Kenner. Und da ist noch Herr Hermesmeier, der im eidtionsgeschichtlichen Bereich ja wirklich großartiges leistet.

Zudem kommt, daß mir in diesem Forum schon weit eingefallen ist, als Ihren Beitrag zu loben.

Viele Grüße
Kurt Altherr
Thomas Schwettmann

Beitrag von Thomas Schwettmann »

Hallo Herr Harder!

Um nochmals jedem Mißverständnis vorzubeugen, es ging mir nicht darum, die 'Urszenen'-These zu retten! Ich bin auch absolut der Meinung, daß Wollschlägers Interpretation von über den Markt hinüber auf sehr, sehr wackeligen Füßen steht, ja daß sie sogar keinesfalls zwingend wäre, selbst wenn da überhaupt gar keine Kirche stehen würde und der Marktplatz völlig leer wäre. Wie gesagt, da May bei der Niederschrift der Erinnerung wußte, daß er ein Ereignis aus dem Jahre 1869 erzählte, hätte er bewußt natürlich keine Wegbeschreibung geliefert, die dem Weg zum Haus am Marktplatz widersprochen hätte. Meineserachtens hat Wollschläger einfach nach einen weiteren Indiz gesucht und die doch eher allgemeine Formulierung über den Markt hinüber sehr speziell im Sinne von 'einmal über den ganzen Platz hinüber' zu deuten versucht. Alles worauf ich hinweisen wollte, ist, daß meineserachtens von der Richtigkeit oder Falschheit dieses einen Indiz nicht automatisch die gesamte 'Urszenen'-Theorie zusammenbricht.

Ansonsten bin ich gänzlich überfragt, ob es eine solche Urszene gegeben hat oder nicht. Von der Tendenz her würde ich sagen, eher nicht, jedenfalls überzeugt mich die Argumentation Wollschlägers da auch nicht wirklich. Falls sich Herr Wollschläger (der ja immerhin ausgebildeter Pschoanalytiker ist) aufgrund bestimmter Merkmale in den Schriften Mays aber relativ sicher ist, daß ein derart traumatisches Ereignis stattgefunden hat, dann könnte es ja auch durchaus in anderer Form, an einem anderen Ort passiert sein. Es ist ja gerade die innere Abwehr solcher traumatischer Erinnerungen, die den betroffenen Menschen das Geschehen bestenfalls entstellt in einem anderen Kontext, in anderen Ablauf fehlerinnern läßt. Ohne echte Kommunikation, durch die eine solche Erinnerung beeinflußt, durch die die Angst vor der Erinnerung an das wirkliche Geschehen abgebaut werden kann, ist es naturgemäß sehr schwierig, aus statischen Texten heraus die richtigen Schlüsse zu ziehen. Aber wie gesagt, ich habe zur 'Urszenen'-These zwar eine tendenziell skeptische, aber keine endgültige Meinung.

Beste Grüße,
Thomas Schwettmann
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Ralf Harder
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Beitrag von Ralf Harder »

Um nochmals jedem Mißverständnis vorzubeugen, es ging mir nicht darum, die 'Urszenen'-These zu retten!
Lieber Herr Schwettmann,

das habe ich auch nicht so aufgefasst.
Alles worauf ich hinweisen wollte, ist, daß meineserachtens von der Richtigkeit oder Falschheit dieses einen Indiz nicht automatisch die gesamte 'Urszenen'-Theorie zusammenbricht.
Zentraler Baustein für Wollschlägers Urszene ist das May-Zitat:
Ich ging den Leichenweg hinab, über den Markt hinüber und öffnete leise die Tür unseres Hauses, ...
»Wie siehst du aus! Schnell wieder fort, fort, fort! ...«
Das "fort, fort, fort" ist in der Wollschläger-These untrennbar mit den Örtlichkeiten in Ernstthal verbunden. Verlegt man das "fort, fort, fort" auf eine andere Umgebung, bricht seine Theorie völlig zusammen.

Dass May zuweilen ein merkwürdiges Verhältnis zu seiner Mutter hatte, wird andere Ursachen haben als Wollschläger vermutet. Sie war ihm wohl immer etwas fremd. Die eigentliche Mutter war seine Großmutter, die sich mehr um ihn als Kleinkind gekümmert hat. Und später übernahm sein Vater die Erziehung, der seine Kinder brutal verprügelte ...

Mit besten Grüßen
Ralf Harder
Gast

Beitrag von Gast »

Autobiographien haben an sich die Schwäche, daß der jeweilige Autor derselben sich nur ungenau erinnert oder eine ihm genehme Version derselben schreibt. Das gilt für die Autobiographien von Marie Versini, Pierre Brice, Carl Zuckmayer und auch - Karl May. Kaum eine Autobiogrphie kann als ungedingt zuverlässig gelten, ist als Quellenlage für eine seriöse Forschung geeignet.

Schenkt man Karl May glauben, dann war Emma May eine Dämonin und darum geht es jetzt hier - hat der Vater brutal die Kinder verprügelt.
Gewiß gehörte früher eine Tracht Prügel durchaus auf dem Erziehungsplan, aber dass der Vater brutal geprügelt hat, wissen wir nur aus der Autobiografie Karl Mays, die - das ist in vielen Punkten erwiesen -ungenau, geschönt und aus bewußt falschen Erinnerungen besteht.

May schrieb "Mein Leben und Streben" nicht bequem zurücklehnt an seinem Schreibtisch, sondern als Rechtfertigungsschrift gegenüber seinen Gegnern und der Justiz - unter einem ernormen persönlichen Druck.

"Mein Leben und Streben" ist eine Schrift, die für die Karl-May-Forschung nur bedingt geeignet ist.

Viele Grüße
Kurt Altherr
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Ralf Harder
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Beitrag von Ralf Harder »

Gewiß gehörte früher eine Tracht Prügel durchaus auf dem Erziehungsplan, aber dass der Vater brutal geprügelt hat, wissen wir nur aus der Autobiografie Karl Mays, die - das ist in vielen Punkten erwiesen -ungenau, geschönt und aus bewußt falschen Erinnerungen besteht.
"Mein Leben und Streben" ist eine Schrift, die für die Karl-May-Forschung nur bedingt geeignet ist.
Freilich enthält keine Autobiografie absolute Wahrheiten. Aber warum sollte May den prügelnden Vater erfunden haben? Wenn Sie sich einmal den Plaul-Anhang von "Mein Leben und Streben" anschauen, werden Sie erkennen, dass sehr viele Details stimmen. Das kann Ihnen auch Ekkehard Bartsch überzeugend bestätigen, den Sie völlig zurecht als großen May-Kenner bezeichnen. Mir scheint es manchmal Mode zu sein, dass sich zuweilen "Forscher" auf den Buckel Karl Mays profilieren wollen, indem sie alles, was May in "Mein Leben und Streben" schreibt, anzweifeln nur um des Anzweifelnswillen. Natürlich muss eine seriöse May-Forschung alles hinterfragen! Aber man sollte dabei fair mit dem Autor umgehen. Das ist jedoch ein anderes Thema.

Mein Anliegen ist hier zu zeigen, wie brüchig Wollschlägers Urszenen-These ist, Mays Mutter hätte um 1844 oder 1845 einen Geliebten im Geburtshaus gehabt und deshalb May als Kleinkind vernachlässigt.

Mit besten Grüßen
Ralf Harder
Waukel
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Beitrag von Waukel »

Hallo zusammen!

Also wenn ich das alles so lese, wie genau recherchiert wird, ob Frau May einen Liebhaber gehabt haben könnte, weil Karl einmal eine Aussage gemacht hat, die man über tausend Umwege durch Gässchen und über Plätze Ernstthals zu beweisen oder zu widerlegen sucht.....
da möchte ich dennoch ganz intuitiv und unwissenschaftlich sagen, dass mir diese Frau trotz mangelhafter Beschreibung ihres Sohnes immer eher verhärmt vorkam, und ein Liebhaber war wahrscheinlich das Letzte, was diese ausgemergelte Frau brauchte/suchte/hatte.

Ist nur eine Meinung dazu.

Gruß
wau
Waukel
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Beitrag von Waukel »

Wobei es natürlich schon reizvoll ist, durch Ernstthal zu streifen und vor Ort solche Untersuchungen anzustellen.

Gruß
wau
karmaqueen
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Beitrag von karmaqueen »

Waukel hat geschrieben:da möchte ich dennoch ganz intuitiv und unwissenschaftlich sagen, dass mir diese Frau trotz mangelhafter Beschreibung ihres Sohnes immer eher verhärmt vorkam, und ein Liebhaber war wahrscheinlich das Letzte, was diese ausgemergelte Frau brauchte/suchte/hatte.
ich halte es ohnehin für viel wahrscheinlicher, dass der vater einen geliebten hatte und zeit seines lebens strapsfetischist war ;)
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