Endlich Wohlgschaft Biographie erschienen

Ekkehard Bartsch
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Beitrag von Ekkehard Bartsch »

Lieber Herr Dernen,

in dem schlimmen Schriftsatz von Rudolf Lebius vom 22.3.1910 (abgedruckt im Lebius-Buch S. 289-296) zieht Lebius ja (S. 295) über Karl Mays Vater her, der sich von seiner als Hebamme tätigen Frau habe ernähren lassen und als Vogelsteller und Schlingenleger durch die Wälder gezogen sei. Auf die kriminellen Machenschaften seines Sohnes war Vater May laut Lebius sehr stolz und "platzte fast vor Eitelkeit".

Was nun die Mutter betrifft, so habe ich gelesen, daß in Zusammenhang mit dem Krügel-Prozeß behauptet wurde, wenn Karl Mays Mutter als Hebamme gerufen wurde, so mußten vorher die Wertsachen im Hause beiseitegebracht werden, damit sie nicht lange Finger machte. Eine genaue Belegstelle für diese üble Nachrede kann ich im Moment allerdings nicht angeben.

Es ging also wohl weniger um den Beruf der Hebamme an sich, als um die Art der Ausführung dieses Berufes. Wie absurd die Unterstellung war, geht ja schon daraus hervor, daß die Tochter Karoline Selbmann (also Karl Mays Schwester) die Nachfolge ihrer Mutter angetreten hat, was sicher verhindert worden wäre, wenn die Mutter in so schlechtem Ruf gestanden hätte.

Mit besten Grüßen
Ekkehard Bartsch
Dernen
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Beitrag von Dernen »

Lieber Herr Bartsch!

Vielen Dank für Ihre Erläuterungen.

Herzliche Grüße

Rolf Dernen
Eckehard Koch
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Rezension

Beitrag von Eckehard Koch »

Für die Mitteilungen der Karl-May-Gesellschaft habe ich zur Wohlgschaft-Biographie eine Stellungnahme verfaßt. Es wird da unter anderem zu lesen sein:

Seit November 2005 liegt die neue Karl-May-Biographie von Hermann Wohlgschaft vor … Da setzt man sich gern auf die Couch und wird sofort in den Bann der großartigen Schilderung gezogen … Chronologisch wird das Leben Mays in all seinen Facetten erzählt und der Bogen zu seinen Werken geschlagen. Der Text ist außerordentlich fein gegliedert: … schon nach jeweils ca. zwei Seiten lockert eine neue Zwischenüberschrift den Leseprozess auf; dies erleichtert die Lektüre, aber sie ist ohnehin schon so spannend, dass man den Band gar nicht wieder aus der Hand legen möchte. Das Werk ist einfach unglaublich gut geschrieben … Mit Hilfe eines ausgedehnten Registerteils mit über 3000 Sachbegriffen, ca. 1300 Personennamen und ca. 500 geographischen Bezeichnungen kann die Biographie auch als Nachschlagewerk benutzt werden.

... May wurde bekannt vor allem als Erfinder von Winnetou und Old Shatterhand, von Kara Ben Nemsi und Hadschi Halef Omar. Wohlgschaft nimmt May als Verfasser von exotischer Abenteuerliteratur zwar ernst, er legt aber Wert auf die Feststellung, dass Leben und Werk Karl Mays sehr weit über diesen Aspekt hinausweisen. … Die zahlreichen, von Wohlgschaft ausführlich dargestellten, biographischen Details und die eingehenden Werkbesprechungen verstellen nicht den Blick auf die Grundidee des Buches: Karl May war, in vielfacher Hinsicht, eine Ausnahmeerscheinung und zugleich ein exemplarischer Mensch, „ein Inbild des Menschen und seiner Suche nach immer besseren Daseinsentwürfen“, wie es Wohlgschaft einmal ausgedrückt hat …

Wohlgschaft verleugnet nie seine theologische Herkunft, und daher verwundert es nicht, dass die religiöse Dimension, die Spuren der Transzendenz in Mays Leben und Werk besonders berücksichtigt und herausgearbeitet werden. Darüber hinaus kommt der May-Biographie zugute, dass sich Wohlgschaft aufgrund eines psychotherapeutischen Zusatzstudiums und einer intensiven Beschäftigung mit einschlägiger Literatur psychologische Fachkompetenz erworben hat. Von sich behauptete May, er sei „Psycholog“. Diesem Selbstverständnis, vor allem des älteren May, geht Wohlgschaft sorgfältig nach – mit dem Ergebnis: So Unrecht hatte May nicht! Als … Verkünder einer „neuen Psychologie“ wird er in Wohlgschafts Biographie unter die Lupe genommen – für mich der zu den interessantesten und spannendsten Partien zählende Teil des Werkes.

In politischer Hinsicht unterstreicht Wohlgschaft die eher ‚linken’ Aspekte des Mayschen Erzählwerkes. Mays – zunehmend entschiedener werdende – Ablehnung aller Formen der Gewalt und seine Parteinahme für unterdrückte Völker und überhaupt für die Schwachen und Benachteiligten der Gesellschaft werden pointiert herausgestellt. Die zeitgeschichtlichen Hintergründe der Mayschen Erzählungen kommen ausführlicher zur Sprache als im Vorläuferwerk von 1994, und wesentlich mehr als in diesem finden wir jetzt Informationen über Mays Arbeitsweise, z.B. die unterschiedliche Art, wie er mit literarischen Quellen umging.

Zur Deutung der Mayschen Kindheits- und Jugenderlebnisse trägt Wohlgschaft neue Gesichtspunkte bei, die über die bisherigen Biographien hinausführen. Auch die ‚heikelsten’ Lebensabschnitte Mays – die Straftäterzeit und die Renommierjahre – werden in selbstständiger und weiterführender Weise interpretiert … Dies bedeutet aber nicht, dass andere Biographien oder gar die neu erschienene Chronik von Mays Leben nun plötzlich entbehrlich seien; nein, alle Werke mit ihren teilweise unterschiedlichen Akzentuierungen oder ihrem unterschiedlichen Informationsangebot ergänzen sich und haben ihre Berechtigung … Dass von daher auch manche Sichtweisen von Wohlgschaft, z.B. bzgl. der „neuen Psychologie“, diskutiert werden können und auch sollten, kann für die May-Forschung nur förderlich sein ...

Wohlgschaft bevorzugt das symbolisch-allegorische Spätwerk Mays und die darin enthaltene Lebensphilosophie. Die Darstellung der letzten Lebensdekade Mays beansprucht deshalb den relativ größten Raum. Aber auch das Frühwerk, die Kolportageromane, die berühmt gewordenen Jugendromane und die Reiseerzählungen Mays werden entsprechend gewürdigt. Allein der Kolportagetätigkeit Mays, die von 1882 bis 1888 währte, und davon speziell dem Erfolgsroman ‚Waldröschen‘ widmet Wohlgschaft eine ausführliche Darstellung. Schon im ‚Waldröschen‘ (und nicht erst im ästhetisch viel höher zu bewertenden Spätwerk) geht es, wie Wohlgschaft überzeugend demonstriert, um existentielle Grunderfahrungen wie Angst und Befreiung, Krankheit und Heilung, zwischenmenschliche Liebe, erotische Anziehung, Trennung und Wiedersehen, Errettung aus größter Gefahr, bittere Reue, Schuld und Vergebung, Sterben und Tod.

Sehr gründlich untersucht Wohlgschaft Mays Einstellung zum ‚Spiritismus’ bzw. – davon zu unterscheiden! – zum ‚Spiritualismus’. Die 75 einschlägigen Titel in Mays Hausbibliothek hat Wohlgschaft durchgesehen und dabei auf Mays Unterstreichungen und Annotationen geachtet. Seine These, dass May zu keinem Zeitpunkt seines Lebens Spiritist war, begründet Wohlgschaft detailliert und mit persönlichem Engagement. Auch Mays Verhältnis zum Islam und anderen Weltreligionen wird in mehreren Kapiteln beleuchtet. Wohlgschaft zeigt auf, dass May bei aller Offenheit für die vielen Religionen doch eindeutig auf dem Boden des Christentums stand. Als bekennender Christ war May allerdings ein eigenwilliger Denker und ein ‚anstößiger‘ Visionär – für die kirchliche Orthodoxie bisweilen eine Zumutung. Mays späte Romane wurden als häretisch verdächtigt und wären um Haaresbreite (wenn es nicht ein Dominikanerpater verhindert hätte) auf den Index der vom päpstlichen Lehramt verbotenen Bücher gekommen. Wohlgschaft erläutert diese Vorgänge genau und mit großem theologischen Sachverstand.

Bleibt das Fazit: Wohlgschafts Biographie bringt eine Fülle neuer Fakten und Einsichten; sie ist hervorragend geschrieben und daher so gut zu lesen. Sie ist sicher die „große May-Biographie“ schlechthin. Ich möchte sie ausdrücklich empfehlen und ihr eine weite Verbreitung wünschen. Die Vorläufer-Biographie von 1994 war in einem Jahr bereits vergriffen. Dasselbe wünsche ich dem jetzt vorgelegten Werk – und daraufhin noch viele weitere Auflagen, und so sei hier Roxin zugestimmt, der sein Geleitwort mit den Worten beschließt: „Wohlgschafts Biographie ist ein enzyklopädisches Grundlagenwerk der Karl-May-Forschung, eine faszinierende Lebens-Reiseerzählung und auch ein wertvolles Dokument der Zeit- und Literaturgeschichte.“ Es sollte in keinem Bücherregal von Karl-May-Freunden und an der Geschichte des 19./Anfang des 20. Jahrhunderts Interessierten fehlen.“

Der vollständige Text dieser Rezension wird im nächsten Mitteilungsheft der KMG erscheinen.

Dr. Eckehard Koch
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Ralf Harder
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Beitrag von Ralf Harder »

Der Rezension der Wohlgschaft-Biographie durch Eckehard Koch stimme ich zu. Außerdem sei daran erinnert: Auch von Claus Roxin und Martin Lowsky (die den revidierten Text der Wohlgschaft-Biographie schon während der Entstehungszeit, in den Jahren 2001 bis 2004, gelesen hatten) liegen sehr eingehende Stellungnahmen vor. Die Roxin-Besprechung findet sich in den Nachrichten der KMG (Nr. 141/2004, S. 16-17), die Lowsky-Besprechung in ›Der Beobachter an der Elbe‘ (Nr. 3/2004, S. 20-21), auch in den Nachrichten der KMG (Nr. 146/2005, S. 38-40) sowie im Internet.

Ralf Harder
JennyFlorstedt
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Re: Rezension

Beitrag von JennyFlorstedt »

Sehr geehrter Herr Koch,

danke, dass Sie Ihre Rezension hier eingestellt haben.
Eckehard Koch hat geschrieben:
Sehr gründlich untersucht Wohlgschaft Mays Einstellung zum ?Spiritismus? bzw. ? davon zu unterscheiden! ? zum ?Spiritualismus?. Die 75 einschlägigen Titel in Mays Hausbibliothek hat Wohlgschaft durchgesehen und dabei auf Mays Unterstreichungen und Annotationen geachtet. Seine These, dass May zu keinem Zeitpunkt seines Lebens Spiritist war, begründet Wohlgschaft detailliert und mit persönlichem Engagement.
Das ist interessant.
Im Leipziger Freundeskreis hatten wir vor einiger Zeit den Spiritismus-Vortrag von Hans-Dieter Steinmetz. Die Hinweise auf Mays Einstellung zum Spiritismus fand ich damals eindeutig. Den Spiritualismus jetzt mal ausklammernd: May schien mir schon - wenigstens zeitweilig - aktiver Spiritist zu sein.
Ich hab die Biografie noch immer nicht gelesen, Asche auf mein Haupt, aber handelt es sich bei der Zusammenfassung von Ihnen, May wäre "zu keinem Zeitpunkt" Spiritist gewesen, um ein zu sehr verknapptes Ergebnis einer späteren Distanzierung Mays oder ist es tatsächlich eine Schlussfolgerung aus allen Quellen?

Vielleicht kann auch Herr Wohlgschaft etwas dazu schreiben, falls er nicht vergrault wurde. ;)

Mit besten Grüßen

Jenny Florstedt
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Grafenberg
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Beitrag von Grafenberg »

Sehr geehrte Frau Florstedt,

Herr Wohlgschaft hat sich auch mit dieser Problematik ausführlich in seiner Biografie befasst. Ich kann nur empfehlen, das Buch erst einmal zu Lesen, sonst sind die Antworten evtl. nicht zu verstehen bzw. missverständlich.
Für mich persönlich war May zu keiner Zeit aktiver Spiritist. Er hat sich mit
dieser Modeerscheinung -wie er sich für vieles andere auch interessierte und wenn er es tat, legte er sich meist auch umfangreiches Material zu - nur intensiv beschäftigt

mit freundlichen Grüßen
Thomas Grafenberg

Geschäftsführer Förderverein Karl-May-Museum
Hermann Wohlgschaft
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Beitrag von Hermann Wohlgschaft »

Über die ausführlichen Rezensionen von Claus Roxin, Martin Lowsky und Eckehard Koch freue ich mich natürlich sehr. Ergänzend verweise ich auf die – ebenfalls ins Detail gehenden, interessanten und originellen – Besprechungen durch Rüdiger Wick. Herr Wick hat zu jedem der drei Bände Stellung genommen, die Texte finden sich im Forum www.karl-may-buecher.de (unter ‚Bände‘, ‚Karl May. Leben und Werk. Biographie von Hermann Wohlgschaft‘, ‚Rezensionen lesen‘). Diese drei Kommentare von Rüdiger Wick finde ich im ganzen ja sehr erfreulich, dem Verfasser möchte ich an dieser Stelle aufs herzlichste danken.

In einem wichtigen Punkt freilich sind wir uns immer noch uneins: Mit guten Gründen, wie ich meine, schätze ich die Glaubwürdigkeit der Mayschen Selbstbiographie (und anderer autobiographischer May-Schriften) wesentlich höher ein als Herr Wick.

Zum Eintrag von Jenny Florstedt, den ich soeben erst gelesen habe: Natürlich bin ich nicht „vergrault“, ganz im Gegenteil. Ihre Frage, sehr geehrte Frau Florstedt, beantworte ich gerne. Denn das Thema ‚Karl May und der Spiritismus‘ ist mir besonders wichtig. So bald ich Zeit habe, vielleicht heute abend noch oder morgen, werde ich mich in diesem Thread dazu äußern.

Hermann Wohlgschaft
JennyFlorstedt
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Beitrag von JennyFlorstedt »

Ergänzend die (fast) direkten Links zu Rüdiger Wicks Rezensionen:

http://141.30.89.80/~thomas/maybuecher/ ... p?_id=1742 (Band 1)
http://141.30.89.80/~thomas/maybuecher/ ... p?_id=1743 (Band 2)
http://141.30.89.80/~thomas/maybuecher/ ... p?_id=1744 (Band 3)

Mit besten Grüßen

Jenny Florstedt
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Hermann Wohlgschaft
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Beitrag von Hermann Wohlgschaft »

Liebe Forumsteilnehmer/innen,

die Anfrage von Jenny Florstedt gibt mir Gelegenheit, ein paar klarstellende Sätze zu formulieren zu der weitverbreiteten (neuerdings auch in der Sudhoff-Chronik, z.B. I 518 oder II 243f., suggerierten) Behauptung, May sei Spiritist gewesen.

In der May-Biographie habe ich – wie Thomas Grafenberg schon vermerkte – das Spiritismus-Thema sehr ausführlich besprochen, vor allem auf den Seiten 549-556 und 933-943. Wer darüber hinaus noch mehr wissen will, findet im Stichwortverzeichnis (S. 2285f.) unter den Begriffen ‚Spiritismus‘ und ‚Spiritualismus‘ zahlreiche weitere Seitenangaben.

Die Spiritismus-Literatur in Mays Hausbibliothek hatte ich schon in den Jahren 2000/01 genau durchgesehen und, aufgrund der Mayschen Unterstreichungen und Annotationen, festgestellt: Auch in den 1880/90er Jahren war May kein Spiritist. Und in späteren Jahren erst recht nicht! Hier im Thread versuche ich eine Zusammenfassung dessen, was ich in der Biographie eingehend dargestellt und mit Quellenangaben belegt habe.

Unter ‚Spiritismus‘ versteht man die Vorstellung, man könne durch mechanische Techniken (z.B. Tischerücken) Verstorbene herbeizitieren und sich mit ihnen – vermittelt durch ‚Medien‘ – unterhalten. Bei spiritistischen Sitzungen (als distanzierter Beobachter, nicht als gläubiger Anhänger dieser Pseudoreligion nahm May des öfteren an solchen Sitzungen teil, während Emma May und Klara Plöhn tatsächlich überzeugte Spiritistinnen waren) wird in abstruser Weise ‚Kontakt‘ aufgenommen mit Verstorbenen, die dann z.B. irgendwelche Fragen beantworten (etwa: „Ist mein Ehemann Karl heute ehrlich zu mir gewesen?“) oder Drohungen aussprechen (etwa: „Liebe Emma, wenn Du nicht einwilligst in die Scheidung von Karl, dann holt Dich der Teufel“). Natürlich ist das alles, wie May genau wußte, nur Quatsch und purer Aberglaube oder auch glattweg Betrug.

Der Vorwurf, May sei Spiritist, spielte in den gerichtlichen Auseinandersetzungen in Mays letzten Lebensjahren eine verhängnisvolle Rolle. Einigen May-Gegnern war jedes Mittel recht, Karl May in der Öffentlichkeit schlecht zu machen und ihn als unglaubwürdig hinzustellen. Die Behauptung, May sei Spiritist, war ein taktischer Bestandteil der Anti-May-Kampagne. Doch schon in einem Privatbrief vom 21.8.1903 schrieb May, er sei nie Spiritist gewesen und werde es auch nie sein (vgl. Chronik III 263f.). Es gibt keinen vernünftigen Grund, diese Aussage Mays zu bezweifeln, zumal der öffentliche Spiritismus-Vorwurf gegen May damals (1903) noch kein Thema war.

Vom Spiritismus unbedingt zu unterscheiden ist aber die christliche (auch in anderen Religionen verbreitete) Glaubensüberzeugung, daß unsere Verstorbenen nicht ins Nichts verschwinden, sondern weiterleben in der Ewigkeit Gottes. Vom Spiritismus unbedingt zu unterscheiden ist auch die religiöse Erfahrung, daß es eine innere Verbindung gibt zwischen Himmel und Erde: zwischen Menschen, die schon gestorben sind, und Menschen, die noch auf Erden leben. Von dieser inneren Verbindung war May tatsächlich überzeugt. Er war kein Spiritist, der auf den Tisch klopfte, seine Verstorbenen herbeizitierte und mit ihnen sprach wie mit Lebenden. Aber er war ein Christ, der seine Verstorbenen behütet wußte im Frieden Gottes und der sich – in seelisch-geistiger Weise – mit seinen Heimgegangenen verbunden fühlte. Das hat mit Spiritismus im obigen Sinne nichts zu tun! Wer freilich mit der Religion und mit der Hoffnung auf ein Leben in der Ewigkeit überhaupt nichts ‚am Hut‘ hat, der könnte vielleicht dazu neigen, alles in einen Topf zu werfen und spiritistischen Aberglauben von echter Religion überhaupt nicht zu unterscheiden.

Völlig zu Recht unterschied May auch den ‚Spiritismus‘ vom ‚Spiritualismus‘. May schrieb oft, er sei nicht Spiritist, sondern Spiritualist. Das ist keine Haarspalterei, sondern eine hochwichtige Unterscheidung. Denn ‚Spiritualismus‘ (ein Begriff, der heute kaum mehr verwendet wird) ist ja nur die philosophische Überzeugung, daß der Mensch ein geistiges Wesen ist und nicht nur Materie, die im Grabe verwest.

Nun habe ich freilich in der Sudhoff-Chronik einige – bisher unbekannte, wohl im Nachlaß überlieferte – May-Texte gefunden, die man tatsächlich für ‚spiritistisch‘ halten könnte. Am merkwürdigsten scheint mir die folgende Passage aus einem undatierten (wohl im Juni 1899 verfaßten) Brieffragment an Emma:

„Da gestand ich meinen Lieben [nahestehende Verstorbene sind gemeint], daß ich ohne ihre Hülfe nicht dichten könne, und siehe da, mein Friedrich kam [Friedrich Schiller ist gemeint] und antwortete: ‚Setz Dich, und schreib!‘ Ich nahm das erste, beste Stückchen Papier und den Bleistift und schrieb. Er führte mir nicht etwa die Hand wie beim Schreiben eines Mediums, sondern ich schrieb wie ganz gewöhnlich; er aber stand bei mir und dictirte mir jedes einzelne Wort mit deutlich vernehmbarer Stimme. ... Womit habe ich solche Engelnähe, solche Führung der Hohen, Himmlischen, solche Liebe, Güte und Bereitwilligkeit der Seligen verdient? ...“ (Chronik II 243f.)

Spiritismus im eigentlichen Sinne ist allerdings auch dieser – zugegeben suspekten – Briefstelle (die in Mays Korrespondenz einen Seltenheitswert besitzt!) nicht zu entnehmen. Denn May schreibt ja nichts von okkulten Praktiken, mittels derer er ‚seinen Friedrich‘ herbeigeholt habe. Es werden da keine Tische gerückt, keine Klopfzeichen gehört und keine ‚Medien‘ bemüht. Es handelt sich hier, nach meinem Empfinden, wohl eher um eine Art Halluzination.

Meine persönliche Ansicht ist dies: Es kann durchaus sein, daß Verstorbene (meinetwegen auch Friedrich Schiller) uns irgendwie beistehen. Ich z.B habe schon oft meine verstorbene Freundin Virginia gebeten, mir beim Formulieren bestimmter Texte zu helfen. Und oft schon hatte ich das sichere Gefühl (die Gewißheit des Herzens!), meine Bitte sei erhört worden. Daß mir aber „jedes einzelne Wort“ diktiert worden sei „mit deutlich vernehmbarer Stimme“, das kann ich nun wirklich nicht sagen. Aber vielleicht hatte May da andere Erfahrungen. Er war ja, im Unterschied zu mir, kein – im bürgerlichen Sinne – ‚normaler‘ Mensch ...

Mit herzlichem Gruß
Hermann Wohlgschaft
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Ralf Harder
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Beitrag von Ralf Harder »

Hermann Wohlgschaft hat geschrieben:Die Spiritismus-Literatur in Mays Hausbibliothek hatte ich schon in den Jahren 2000/01 genau durchgesehen und, aufgrund der Mayschen Unterstreichungen und Annotationen, festgestellt: Auch in den 1880/90er Jahren war May kein Spiritist. Und in späteren Jahren erst recht nicht! ...
Der Vorwurf, May sei Spiritist, spielte in den gerichtlichen Auseinandersetzungen in Mays letzten Lebensjahren eine verhängnisvolle Rolle.
Hierzu noch ein paar Erläuterungen:

Warum war der Vorwurf des Spiritismus für May so verhängnisvoll? Der Spiritismus wurde damals – und wird noch heute – von den christlichen Kirchen (der evangelisch-lutherischen ebenso wie der römisch-katholischen Kirche, sie hatten damals noch einen größeren gesellschaftlichen Einfluss) als unseriös, als primitiver Aberglaube, als Aftermystik zurückgewiesen. Karl May war seit der Jahrhundertwende verpönt wegen der ‚Old-Shatterhand-Legende‘, wegen der angeblich ‚abgrundtief unsittlichen‘ Münchmeyer-Romane, wegen des falschen Doktortitels, wegen der Ehescheidung. Wenn es obendrein noch gelang, Karl May als Spiritisten zu ‚entlarven‘, dann war er in den Augen gläubiger Christen endgültig erledigt. Genau darauf hatten es maßgebliche May-Gegner abgesehen!

Ralf Harder
JennyFlorstedt
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Beitrag von JennyFlorstedt »

Ich weiß nicht, wo genau man hier die Trennlinien zwischen Anhänger und interessiertem Laien und Forscher zu ziehen hat.

Karl May nahm an den Sitzungen mehrfach und in verschiedenen Lebensabschnitten teil, aber systematische Studien hat er nicht betrieben (was für mich ein Hinweis auf wissenschaftliche Arbeit wäre).
Dass er Spiritualist war, wird ziemlich deutlich. Aber könnte die spätere rigorose Ablehnung des Spiritismus nicht einfach eine Schutzbehauptung sein?

ta
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Ralf Harder
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Beitrag von Ralf Harder »

JennyFlorstedt hat geschrieben:Aber könnte die spätere rigorose Ablehnung des Spiritismus nicht einfach eine Schutzbehauptung sein?
Nein.
Hermann Wohlgschaft hat geschrieben:Die Spiritismus-Literatur in Mays Hausbibliothek hatte ich schon in den Jahren 2000/01 genau durchgesehen und, aufgrund der Mayschen Unterstreichungen und Annotationen, festgestellt: Auch in den 1880/90er Jahren war May kein Spiritist. Und in späteren Jahren erst recht nicht! ...
Doch überzeugen Sie sich doch selbst, sehr geehrte Frau Florstedt. Sie können jederzeit nach Voranmeldung die Bibliothek Karl Mays, für deren wichtigen Erhalt (diese Diskussion ist wieder ein treffendes Beispiel) sich unser Förderverein einsetzt, besuchen.

Die Benutzerordnung:
http://www.karl-may-stiftung.de/bibliothek.html

Mit freundlichen Grüßen
Ralf Harder
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rodger
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Beitrag von rodger »

Ralf Harder hat geschrieben:
JennyFlorstedt hat geschrieben:Aber könnte die spätere rigorose Ablehnung des Spiritismus nicht einfach eine Schutzbehauptung sein?
Nein.
Doch.

:wink:

Da helfen alle Bibliotheken dieser Welt nicht. Natürlich könnte es sein.

Es könnte auch sein, daß Karl May als Kind Kaulquappen gefangen und Fliegen totgeschlagen hat. Wenn er das nun im Alter bestritten hätte ("Ich habe niemals Kaulquappen gefangen oder Fliegen totgeschlagen") und in seiner Bibliothek rein gar nichts verdächtiges zu dem Thema gefunden würde, könnte es, nichtsdestotrotz, durchaus sein, daß er da (mal wieder) eine Schutzbehauptung aufstellt.

:wink:
JennyFlorstedt
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Beitrag von JennyFlorstedt »

Sehr geehrter Herr Harder,

um nichts in der Welt möchte ich Ihnen das Vergnügen einer vorgefassten Meinung rauben, aber da ich - wenn auch noch nicht die Wohlgschaft-Biographie - so aber doch den Aufsatz von Hans-Dieter Steinmetz zu diesem Thema gelesen habe, ist doch bestimmt eine Nachfrage erlaubt, ohne dass ich sämtliche Forschungen nochmal neu betreiben muss.

Jenny Florstedt
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Ralf Harder
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Beitrag von Ralf Harder »

Wenn der Mond auch annähernd rund ist, scheint er bei Ihnen generell viereckig zu sein. Damit meine ich: Was Ihnen nicht in den Kram passt, lieber Herr Wick, wird einfach barsch ignoriert.

Mays kritische „Unterstreichungen und Annotationen“, die er in den spiritistischen Büchern seiner Bibliothek hinterlassen hat, bestätigen, dass er kein Spiritist war.

Zu Frau Florstedt:

Da ich von den kritischen "Unterstreichungen und Annotationen" Mays weiß, habe ich keine "vorgefasste Meinung", wenn ich schreibe:

"Doch überzeugen Sie sich doch selbst, sehr geehrte Frau Florstedt. Sie können jederzeit nach Voranmeldung die Bibliothek Karl Mays, für deren wichtigen Erhalt (diese Diskussion ist wieder ein treffendes Beispiel) sich unser Förderverein einsetzt, besuchen."

Aber Sie scheinen die Bedeutsamkeit von Mays Bibliothek ignorieren zu wollen. Und das ist unwissenschaftlich, wenn man wichtige Quellen ausklammert.

Ralf Harder
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