Hermann Wohlgschaft hat geschrieben:Dass man sich - hin und wieder - selber nicht mag, passiert wohl (fast) Jedem. Was aber spricht dafür, dass bei May diese fehlende Selbstachtung besonders ausgeprägt war?
Ich versuche mal, meinen Gedankengang zu erklären, auch wenn er weder zu Ende gedacht noch mit „Belegen“ gefestigt und – wahrscheinlich – an allen Ecken und Kanten angreifbar ist. Es ist eine (unzulänglich, da eilig formulierte) Impression nach nunmehr fast einem Jahr liebevoller Beschäftigung mit „meinem“ Karl May (ich mag ihn ja wirklich, irgendwie, grad weil er so verquer ist, manchmal). Also:
Warum habe ich den Eindruck, dass Karl May mit sich nicht "im Reinen" war, dass er große Schwierigkeiten hatte, sich selbst als nicht perfekten, aber liebenswerten Menschen zu akzeptieren?
Indiz Nr. 1:
Die sich spiralengleich immer weiter nach oben schraubende, bis ins Irrwitzige gesteigerte Old-Shatterhand-Legende erscheint mir manchmal als ein – ebenso unbewusster wie untauglicher – Versuch ein zutiefst verletztes Ego zu heilen. Seine Identifikationsfigur, sein „Wunsch-Ich“ beginnt als hinreißender, junger Mann im „Firehand“ oder im „Scout“, nimmt seine Steigerung über Old Shatterhand und Kara Ben Nemsi bis hin zu dem vollends in seine Phantasiewelt entflohenen Karl Shatterhand Ben Nemsi May, der tausend und mehr Sprachen spricht und sich mit dem Kaiser zum Wettschießen treffen will. Dabei ist auffällig, wie sehr das Wunsch-ICH immer wieder Charakterzüge trägt, die einigen Aspekten der echten Mayschen Persönlichkeit diametral entgegenstehen (und zwar in einer exponierten Weise, die weder für das Held-sein an sich noch für Fortgang der literarischen Handlung erforderlich wären): ICH lügt nie (der Zwang zur Wahrhaftigkeit wirkt nun wirklich leicht übersteigert), ICH borgt nie, ICH vergreift sich niemals ungerechtfertigt am Eigentum anderer, ICH ist nicht launenhaft, Jähzorn und Ungeduld sind ihm (weitgehend) wesensfremd. Emotionale Entgleisungen gegenüber Mitmenschen unterlaufen ICH so gut wie nie...
Wirkt das nicht wie eine verzweifelte Suche nach Selbstachtung auf Abwegen? Ist da nicht so eine Art "Endlosschleife" im "Try and Error"-Modus zu erkennen? Will da nicht einer all die Eigenschaften "wegträumen", die er an sich selbst nicht akzeptieren kann, akzeptieren in dem Sinn: So bin ich, das ist nicht o.k., ich sollte an mir arbeiten - aber ich bin trotz meiner Fehler ein wertvoller Mensch, wert geliebt und anerkannt zu werden?
Ist es nicht auffällig, wie sehr das "Wunsch-Ich" im Laufe der Jahre immer weiter gesteigert wird - so als hätte Karl May zwar gespürt, dass er auf diesem Weg mit sich selbst nicht ins Reine kommen kann, aber den Ausweg aus dem Dilemma nicht gefunden (Akzeptanz der eigenen Unzulänglichkeit statt immer weiterer Perfektion des erträumten Wunsch-Ich)?
Indiz Nr. 2:
Die Art und Weise, in der der ältere Karl May seine früheren Werke „schlecht redet“ (Kolportageromane) bzw. „umdeutet, weil nicht mehr den eigenen Ansprüchen genügend“ (Reise- und Jugenderzählungen). Eine selbstbewußte, in sich ruhende Persönlichkeit hätte sich doch ohne Umschweife sowohl zu Kolportageromanen wie auch zu seine Reise- und Jugenderzählungen „bekennen“ können. Wenn ich solche Maysche Selbstkritik lese, habe ich manchmal fast physisch das Bedürfnis, den guten Karl an der Schulter zu packen, durchzuschütteln und zu sagen: Wach endlich auf! Das, was Du all die Jahre geschrieben hast, ist vielleicht nicht perfekt - aber es ist VERDAMMT GUT! Sei doch endlich mal stolz drauf, statt immer an Dir selbst hinzunörgeln! Schriftstellerisch/ philosophisch wie auch immer weiterentwickeln ist ja schön und gut - aber deswegen ist doch nicht alles frührere auf einmal schlecht!
Indiz Nr. 3:
Soweit ich das weiß, hat Karl May auf Kritik von außen häufig wenig entspannt, sondern deutlich „angepiekst“ reagiert („kaltschnäuzig“, wenn man so will) – das spricht auch nicht gerade für ein solides Selbstwertgefühl.
Indiz Nr. 4:
Dieses verzweifelte, literarische Suchen und Sehnen nach Liebe. Die immer und immer wieder beschriebene Liebe, die dem "Ich" geradezu entgegensprudelt? Spricht da nicht ein Autor, der tief in seinem Herzen nicht glauben konnte, dass ihn jemand wirklich lieben könnte?
Besser bekomme ich es auf die Schnelle nicht formuliert, vielleicht versteht man mich ja trotzdem.....
P.S.:
Kälte habe ich übrigens noch in keinem von Karl Mays Bildern gesehen. Aufgesetzen/gespielten Hochmut und Arroganz manchmal ja (einige Kostümbilder haben so etwas „wilhelminisches“). Ganz oft sehe ich Wärme, Herzlichkeit, Sehnsucht und jede Menge Schalk. Auf dem Bild im Jahrbuch sehe ich Albernheit (und ein paar Gläser Rotwein zu viel

. Ich möchte wirklich nicht wissen, was DIE Truppe an dem Abend noch so veranstaltet hat....