Nun ist der Doppelroman Zepter und Hammer/Die Juweleninsel freilich ein besonders krasser Fall der Bearbeitungspraxis, da wurde am radikalsten gekürzt, umgestellt und erneuert; nicht zuletzt bestimmt auch aus der Überzeugung heraus, daß der Originaltext der Leserschaft lange, lange Zeit nicht - ja vielleicht überhaupt nie - zugänglich sein dürfte, hat man sich hier extrem ausgetobt, während etwa bei den Münchmeyer-Kolportage-Romanen noch mit einer weiten Verbreitung der Fischer-Ausgaben, ja selbst der ursprünglichen Lieferungsausgaben zu rechnen war, und die Bearbeitungen sich in diesen Fällen also immer auch an den Vorfassungen messen lassen konnten.rodger hat geschrieben:So sehr ich mittlerweile versuche, den Bearbeitungen gegenüber toleranter zu sein (...)
Ich persönlich jedenfalls halte die Argumentation der angeblichen Unvollständigkeit, des fragmentarischen Charakters und der Verwirrung durch die häufig angewandte Rückblendentechnik für reichlich überzogen, letztendlich ging es den Bearbeitern vordergründig doch wohl eher darum, den Doppelroman in zwei Bänden der 'Gesammelten' unterzubringen, insofern machten sich diese also ans Werk, umfanggerecht einige Nebenhandlungen als unnötigen Ballast einzustuften und zu entfernen, um so die Gesamtromanlänge um ein Viertel schrumpfen lassen zu können, stattdessen hätte man die beiden Romane lieber komplett in drei schmaleren Bände der 'Gesammelten' unterbringen sollen.
Man muß übrigens moralischen Aussagen wie den oben von mir zitierten zur Todesstrafe oder zur blasierten haute-volée - wie May die Oberschicht selbst bezeichnet - natürlich auch unter dem Aspekt betrachten, daß sich May hier wieder einmal der 'Ausrichtung' der Zeitschrift angepaßt hatte, sodaß man nicht automatisch davon ausgehen kann, daß May hier deckungsgleich seine eigene Meinung formuliert hat (wenngleich dies mindestens tendenziell durchaus der Fall gewesen sein dürfte). Den folgenden Satz hätte er bespielsweise natürlich niemals für den 'Hausschatz' geschrieben: Wir befinden uns hier im bevölkertsten Fabrikdistrikte des Landes; Handel und Gewerbe stocken nicht blos, sondern liegen ganz und vollständig darnieder; der Arbeiter hungert mit seiner Familie; die Sozialdemokratie erhebt ihr Haupt und heult um Rache und Hülfe überall, am kleinsten Orte tagen Meetings und Versammlungen, in denen der Kreuzzug gegen die Aristokratie, gegen die besitzenden Klassen gepredigt wird. Kein Wunder also, daß May zu jener Zeit bei der kaisertreuen Polizei als Sozialdemokrat durch und durch eingestuft wurde.
Wenn Karl May sein Alter Ego Karl Goldschmidt allerdings ob der 'hohen Herren' knirschen läst, dann entspricht dies durchaus seinen ureigensten Standpunkt, spielt er doch unverblümt auf seine Vergangenheit an: »Hund!« knirschte Karl. »Oder ist es nicht Hundenatur, auf fremdem Gebiete zu revieren? Diese Herren dürfen mit ihren sogenannten noblen Passionen ungestraft das Glück und Wohl ihrer Nebenmenschen tödten, und wenn ein armer Teufel vor Hunger die Hand nach einem elenden Stücke Geldes ausstreckt, so reißt man ihn aus all seinen Verhältnissen, aus der menschlichen Gesellschaft, und steckt ihn, der nur noch als eine Nummer gilt, zwischen kalte nackte Mauern, die er nur verläßt, um die Seinen noch ärger bestraft zu finden, als er selbst es war.
Überhaupt bietet die Goldschmidt/Vollmer-Episode, die bei der Umwandlung des entsprechenden Kapitels in einen Briefwechsel zum Opfer gefallen ist, ja einiges an biographischen Einblick. Und so ist es schon ein kurioser Witz, wenn mittlerweile die 'Emma-Pollmer-Studie' in den 85. Band der 'Gesammelten' aufgenommen wurde und Gabrielle Wolff in ihrer Einführung dank des zuvor in den 84. Band aufgenommenen Juweleninsel-Kapitels Der Bowie-Pater auch auf biographische Spiegelungen in der Figur der Miss Ella verweisen kann, die von Rodger anfangs des Threads zitierte 'Emma Vollmer', in der Emma Pollmer noch wesentlich deutlicher gespiegelt wird, allerdings ausgeklammert bleibt, denn schließlich ist die Affäre Goldschmidt/Vollmer bis heute in den 'Grünen' nicht zu finden.
Allerdings hatte zuvor auch Heinz Stolte in seiner Einführung und seinen Anmerkungen zur Reprint-Ausgabe der 'Studie' diesen wichtigen Vergleichstext nicht erwähnt oder gar ausgewertet, obwohl etwa Wollschläger bereits in seiner Biographie schrieb: (...) d a s Porträt der >Emma Vollmer< und ihres armen Karl geht über alle theoretische Beschreibung...
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Wie aber soll man die 'Emma-Pollmer-Studie' als Leser richtig einschätzen können, ohne daß man Kenntnis von den widersprüchlichen Gefühlen erhält, die Karl May tatsächlich damals schon vor der Hochzeit für seine Emma hegte, sodaß man eindeutiger unterscheiden kann, was also in seiner Studien-Darstellung durch eine zweifellos auch vorhandene verzerrte Sicht im Alter bedingt ist, und was bereits wirklich der Gemüthslage des jungen May entsprach? Denn in Scepter und Hammer gibt es ja nicht nur die eindrucksvolle kurze Charakterisierung Emmas, die Rodger bereits ganz am Anfang des Threads zitiert hat, sondern noch wesentlich mehr, das May kaum verschlüsselt über die Beziehung zu seiner Emma schrieb und von dem dann einiges später in seiner 'Studie' in schärferer Tonart wieder anklingt:
»Ich begreife es nicht. Emma ist schön, besitzt ein gutes Gemüth, einen häuslichen, wirthschaftlichen Sinn und - -«
»Und weiß, daß sie schön ist,« fiel Karl ein. »Sie hat ihre Mutter bei der Geburt verloren und wurde von ihrem Vater durch übergroße Zärtlichkeit und unverständige Nachsicht so verzogen, daß sie kein anderes Gesetz kennt, als das Gefühl des Augenblicks. Sie kennt ihre körperlichen Vorzüge sehr genau; sie bemerkt es, wenn sie bewundert wird, und thut man dies nicht, so fordert sie durch Blick, Bewegung und Geberde dazu auf. Sie hatte mich lieb, aber sie will ihre Vorzüge nicht mir allein widmen, sie bedarf auch der Anerkennung Anderer, welche sie mit suchendem Auge einkassirt. Bei einem solchen Charakter oder vielmehr Naturell ist sie allen Versuchungen ausgesetzt, denen gegenüber sie nicht diejenige Festigkeit besitzt, welche erforderlich ist zur inneren und äußeren Treue gegen den Geliebten.«
(...)
»Pah! Du als Literat, der sehr berühmte Romane und Novellen schreibt, bist natürlich seelenkundiger als der bescheidene Uhrmacher Paul Held; aber ich meine, wenn ein Mädchen den Mann ihrer Wahl wirklich lieb hat, so wird sie ihren Fehlern gern entsagen.«
»Richtig, doch von diesem gern entsagen bis zum wirklichen Aufgeben der Fehler ist ein weiter und schwieriger Weg, zu welchem eine Charakterfestigkeit gehört, welche dem Leichtsinne entgeht. Emma hat mich heut noch innig lieb, aber ihre Gefallsucht wird sie auf Abwege treiben, auf denen sie vielleicht jetzt schon wandelt.«
»Karl!« rief der Andere zum zweiten Male.
»Ich bleibe bei dieser Behauptung. War es früher nicht ihr größtes Glück, des Abends an meinem Arme sich zu erholen? Und was thut sie jetzt? Sie verspricht mir, zu kommen, hält aber selten Wort, und wenn ich nachforsche, so höre ich, daß sie nicht daheim geblieben, sondern bei dieser Frau Schneider gewesen ist, deren Existenz mir eine höchst problematische zu sein scheint. Dieses Weib hat eine Tochter, welche den Anziehungspunkt gewisser Herrenkreise bildet. Ich habe Emma gebeten, die Familie zu meiden, sie hat meinen Wunsch nicht berücksichtigt; ich habe es ihr mit Strenge befohlen, sie ist mir ungehorsam gewesen; ich säe Aufrichtigkeit und ernte Lügen; diesem Zustande möchte ich ein Ende machen und kann es doch nicht, weil ich - - sie zu innig, zu innig liebe!«
»Armer Freund!«
»Ja, arm, sehr arm! Wie reich und glücklich war ich vorher. Ich gehöre zu den gelesensten Novellisten; man bezahlt meine Arbeiten so, daß ich mehr einnehme als ich bedarf; ich könnte es schnell vorwärts bringen, doch glaube mir, Paul, seid meiner Bekanntschaft mit Emma habe ich nicht eine einzige Arbeit vollendet, welche ich mit gutem Gewissen dem Drucke hätte übergeben dürfen. Wenn es so fortgeht, so bin ich geistig und wirthschaftlich ruinirt.«
Das alles entgeht den gewöhnlichen GW-Leser und es ist erst recht wirklich kaum zu verstehen, warum nicht wenigstens im Band 'Von Ehefrauen und Ehrenmännern' diese frühe Emma-Kurzstudie zum besseren Verständnis der ausführlichen 'Emma-Pollmer-Studie' zusätzlich abgedruckt wurde.