Dr. William E. Thomas MD

Karl May und William Ohlert

 

Die Geschichte ›Der Scout‹ über den Dichter William Ohlert erschien zuerst in der Zeitschrift ›Deutscher Hausschatz‹ in den Monaten Dezember 1888 bis August 1889.[1] Später wurde diese Erzählung für das Buch ›Winnetou II‹ verwendet.[2] In der englischsprachigen ›Winnetou‹-Ausgabe [3] ließ man die Episode mit William Ohlert aus.

Karl May beschrieb William Ohlert in der Geschichte als den einzigen Sohn eines Bankiers. Mehr künstlerisch als praktisch veranlagt, ließ William einige Gedichte herausgeben. Um ein Theaterstück zu schreiben, das einen seelisch kranken Dichter als Hauptfigur hatte, begann William, Bücher über Wahnsinn zu lesen. Es entwickelte sich eine Veränderung in Williams Persönlichkeit. Er begann, zu denken und zu handeln wie ein verrückter Dichter. William verfasste ein Gedicht ›Die fürchterlichste Nacht‹. »… den Entsetzensschrei eines begabten Menschen, welcher vergebens gegen die finsteren Gewalten des Wahnsinnes ankämpft und fühlt, daß er ihnen rettungslos verfallen müsse.«[4]

Zu diesem Zeitpunkt war William von Zuhause weggelaufen in Begleitung eines rücksichtslosen Verbrechers, dessen Absicht es war, in den Besitz seines Geldes zu gelangen. Old Shatterhand wird ein Kopfgeldjäger und holt William in Mexiko ein. Nachdem William einen Schlag auf seinen Kopf erleidet, nimmt Old Shatterhand ihn zu einem Mitglied eines religiösen Ordens mit, zu Pater Benito, der ihn völlig von seinem Wahnsinn heilt. Jedoch leidet William an Amnesie. Er erinnert sich an nichts zwischen der Zeit, als er sein Zuhause verließ und dem Schlag auf seinen Kopf. Am Ende kommt Williams Vater nach Mexiko, um seinen Sohn nach Hause zu holen.

Am Anfang seiner Reise war William Ohlert in der Lage, sein Gedicht ›Die fürchterlichste Nacht‹ zur Redaktion einer Zeitung zu bringen und für seine Veröffentlichung zu bezahlen. Er holte unterwegs auch Geld bei einer Bank. Wir finden drei Beschreibungen von William Ohlert in der Geschichte durch verschiedene Beobachter.

Die Besitzerin einer Pension, wo Ohlert in Erinnerung blieb: »… Dieser Herr hat den Eindruck eines fein gebildeten Mannes, eines wahrhaften Gentleman auf mich gemacht. Leider sprach er nicht viel und verkehrte mit Niemanden. Er ist nur ein einziges Mal ausgegangen, jedenfalls als er Ihnen das Gedicht brachte.«[5]

Old Death traf auch William Ohlert: »… Schade um den Gefährten [William Ohlert], mit welchem er reiste! Schien ein veritabler Gentleman zu sein, nur immer traurig und düster; starrte stets wie ein geistig Gestörter vor sich hin.«[6]

Auf die Frage von Old Death: »Ist dieser William Ohlert denn vollständig wahnsinnig?« gibt Old Shatterhand diese Antwort: »Nein. Ich verstehe mich zwar nicht auf Geisteskrankheiten, möchte hier aber doch nur von einer Monomanie reden, weil er, abgesehen von einem Punkte, vollständig Herr seiner geistigen Thätigkeiten ist.«
   »›Um so unbegreiflicher ist es mir [sagt Old Death], daß er diesem Gibson einen so unbeschränkten Einfluß auf sich einräumt. Er scheint diesem Menschen in Allem zu folgen und zu gehorchen. Jedenfalls geht dieser schlau auf die Monomanie des Kranken ein und bedient sich derselben zu seinen Zwecken. …‹ …
   ›… Ohlert weiß vielleicht gar nicht, daß er verfolgt wird, daß er sich auf Irrwegen befindet. Er ist wohl in dem guten Glauben, ganz recht zu handeln, lebt nur für seine Idee, und das andere ist Gibsons Sache. Der Irre hat es nicht für unklug gehalten, Austin als Ziel seiner Reise anzugeben. …‹«[7]

Später beschrieb ein deutscher Schmied seine Begegnung mit Ohlert: »… der Andere ist Master Ohlert, welcher mich in eine nicht geringe Verlegenheit brachte. Er fragte mich immerfort nach Gentlemen, die ich in meinem Leben noch nicht gesehen hatte, so z. B. nach einem Nigger, Namens Othello, nach einer jungen Miß aus Orleans, Johanna mit Namen, welche erst Schafe weidete und dann mit dem König in den Krieg zog, nach einem gewissen Master Fridolin, welcher einen Gang nach dem Eisenhammer gemacht haben soll, nach einer unglücklichen Lady Maria Stuart, der sie in England den Kopf abgeschlagen haben, nach einer Glocke, die ein Lied von Schiller gesungen haben soll, auch nach einem sehr poetischen Sir, Namens Ludwig Uhland, welcher zwei Sänger verflucht hat, wofür ihm irgend eine Königin die Rose von ihrer Brust herunterwarf. Er freute sich, einen Deutschen in mir zu finden, und brachte eine Menge Namen, Gedichte und Theaterhistorien zum Vorscheine, von denen ich mir nur das gemerkt habe, was ich soeben sagte. Das ging mir Alles wie ein Mühlenrad im Kopf herum. Dieser Master Ohlert schien ein ganz braver und ungefährlicher Mensch zu sein, aber ich möchte wetten, daß er einen kleinen Klapps hatte. Und endlich zog er ein Blatt mit einer Reimerei hervor, welche er mir vorlas. Es war da die Rede von einer schrecklichen Nacht, welche zweimal hinter einander einen Morgen, aber das drittemal keinen Morgen hatte. Es kamen da vor das Regenwetter, die Sterne, der Nebel, die Ewigkeit, das Blut in den Adern, ein Geist, der nach Erlösung brüllt, ein Teufel im Gehirn und einige Dutzend Schlangen in der Seele, kurz, lauter confuses Zeug, was gar nicht möglich ist und auch gar nicht zusammenpaßt. Ich wußte wirklich nicht, ob ich lachen oder ob ich weinen sollte.«

Old Shatterhand wollte herausfinden, welchen Vorwand Gibson/Gavilano verwendete, um William Ohlert mitzunehmen:

Dieser Vorwand mußte für den Geisteskranken ein sehr verlockender sein und mit dessen fixer Idee, eine Tragödie über einen wahnsinnigen Dichter schreiben zu müssen, in naher Verbindung stehen. Vielleicht hatte Ohlert sich auch darüber gegen den Schmied ausgesprochen. Darum fragte ich den Letzteren:
   »›Welcher Sprache bediente sich dieser junge Mann während des Gespräches mit Euch?‹
   ›Er redete Deutsch und sprach sehr viel von einem Trauerspiel, das er schreiben wollte, es sei aber nötig, daß er Alles das, was in jenem enthalten sein solle, auch selbst vorher erlebe.‹
   ›Das ist ja gar nicht zu glauben!‹
   ›Nicht? Da bin ich ganz anderer Meinung, Sir! Die Verrücktheit besteht ja grad darin, Dinge zu unternehmen, die einem vernünftigen Menschen gar nicht in den Sinn kommen. Jedes dritte Wort war eine Sennorita Felisa Perilla, die er mit Hilfe seines Freundes entführen müsse.‹
   ›Das ist ja wirklich Wahnsinn, der reine Wahnsinn! Wenn dieser Mann die Gestalten und Begebenheiten seines Trauerspiels in die Wirklichkeit überträgt, so muß man das unbedingt zu verhindern suchen. …‹«[8]

Es gibt eine interessante Bemerkung über William Ohlert, die Old Death von Senor Cortesio hört: »Jetzt kehrt er [Gibson/Gavilano] mit einem Yankee zurück, welcher Mexico kennen lernen will und ihn gebeten hat, ihn in das Reich der Dichtkunst einzuführen. Sie wollen in der Hauptstadt ein Theater bauen.«[9]

Karl May schrieb in seiner Autobiografie:

»… an dessen … Ende die Ideale lagen, die ich seit meiner Knabenzeit im tiefsten Herzen trug. Schriftsteller werden, Dichter werden! Lernen, lernen, lernen! … Die Welt als Bühne kennenlernen, und die Menschheit, die sich auf ihr bewegt! Und am Schlusse dieses schweren, arbeitsreichen Lebens für die andere Bühne schreiben, für das Theater, …«[10]

Für das Theater schreiben! Dramen schreiben![11]

William Ohlert wird sehr verschlossen während der Reise:

»›Haben Gibson und William Ohlert von ihren Verhältnissen und Plänen gesprochen?‹
   ›Kein Wort. Der erstere war sehr lustig und der letztere sehr schweigsam. …‹«
[12]

Gegen Ende der Reise verfällt William Ohlert körperlich und geistig fast bis in einen katatonischen Zustand:

»Gibson und William Ohlert saßen ebenfalls in der Runde. Der letztere sah außerordentlich leidend und verkommen aus. Seine Kleidung war zerrissen und sein Haar verwildert. Die Wangen waren eingefallen, und die Augen lagen tief in ihren Höhlen. Er schien weder zu sehen noch zu hören, was um ihn vorging, hatte einen Bleistift in der Hand und ein Blatt Papier auf dem Knie liegen und stierte in einemfort auf dasselbe nieder. Mit ihm hatte ich zunächst nichts zu tun. Er war willenlos. …
   Er [Gibson] deutete … auf William Ohlert.
   ›Der? Ein Zeuge gegen mich?‹ fragte Gibson. ›Das ist wieder ein Beweis, daß ihr mich verkennt. Fragt ihn doch einmal!‹
   Ich legte William die Hand auf die Schulter und nannte seinen Namen. Er erhob langsam den Kopf, stierte mich verständnislos an und sagte nichts.
   ›Master Ohlert, Sir William, hört Ihr mich nicht?‹ wiederholte ich. ›Euer Vater sendet mich zu Euch.‹
   Sein leerer Blick blieb an meinem Gesichte haften, aber er sprach kein Wort. Da fuhr Gibson ihn in drohendem Tone an:
   ›Deinen Namen wollen wir hören. Nenne ihn sofort.‹
   Der Gefragte wendete den Kopf nach dem Sprecher und antwortete halblaut in ängstlichem Tone wie ein eingeschüchtertes Kind:
   ›Ich heiße Guillelmo.‹
   ›Was bist du?‹
   ›Dichter.‹
   Ich fragte weiter:
   ›Heißt Du Ohlert? Bist Du aus New York? Hast Du einen Vater?‹ Aber alle Fragen verneinte er, ohne sich im mindesten zu besinnen.«[13]

Als Karl May am 26. März 1865 festgenommen wurde, war er »anfänglich ganz regungslos und anscheinend leblos gewesen und hat auch, nachdem der Polizeiarzt herzugerufen wurde, nicht gesprochen und erst später [!] angegeben, das er Karl Friedrich May heiße, …«[14]

Old Shatterhand hatte eine Idee:

»Ich zog die Brieftasche hervor, … Ich hatte das Zeitungsblatt mit Ohlert’s Gedicht in derselben, nahm es heraus und las langsam und mit lauter Stimme den ersten Vers. Ich glaubte, der Klang seines eigenen Gedichtes werde ihn aus seiner geistigen Unempfindlichkeit reißen. Aber er blickte fort und fort auf sein Knie nieder. Ich las den zweiten Vers, ebenso vergeblich. Dann den dritten … Die letzten beiden Zeilen hatte ich lauter als bisher gelesen. Er erhob den Kopf; er stand auf und streckte die Hände aus. Ich fuhr fort … Da schrie er auf, zu mir hinspringend und nach dem Blatte greifend. Ich ließ es ihm. Er bückte sich zu dem Feuer nieder und las selbst, laut, von Anfang bis zu Ende. Dann richtete er sich auf und rief in triumphirendem Tone, so daß es weit durch das nächtliche stille Thal schallte:
   ›Gedicht von Ohlert, von William Ohlert, von mir, von mir selbst! Denn ich bin dieser William Ohlert, ich selbst. Nicht du heißest Ohlert, nicht du, sondern ich!‹
[15]

Leider kam zu diesem Zeitpunkt der Indianerhäuptling ganz die Rathsversammlung und seine Würde vergessend, herbeigesprungen, stieß William auf den Boden nieder und gebot:
   ›Schweig, Hund! Sollen die Apachen hören, daß wir uns hier befinden? Du rufst ja den Kampf und den Tod herbei!‹
   William Ohlert stieß einen unverständlichen Klageruf aus und sah mit einem stieren Blick zu dem Indianer empor. Das Aufflackern seines Geistes war plötzlich wieder erloschen. Ich nahm ihm das Blatt aus der Hand und steckte es wieder zu mir.«
[16]

Karl May gibt uns drei weitere flüchtige Beschreibungen von William Ohlert vor dem großen Finale:

»… William Ohlert saß noch auf seinem Platze und starrte auf den Bleistift, den er wieder in den Fingern hielt.«[17]

»William Ohlert schrieb auf sein Blatt, taub und blind für alles Andere.«[18]

»Er [Gibson] stand noch am Feuer, hatte Ohlert's Arm ergriffen und bemühte sich, ihn vom Boden empor zu zerren.«[19]

Schließlich entwickelt sich der letzte Höhepunkt der Geschichte:

»Ich sah – – Gibson mit William Ohlert eintreten. Sie wurden höflich bewillkommnet und zum Sitzen eingeladen, was sie auch thaten. Gibson nannte sich Gavilano und gab sich für einen Geographen aus, welcher mit seinem Collegen diese Berge besuchen wolle. Er habe sein Lager in der Nähe aufgeschlagen und da sei ein gewisser Harton, ein Gambusino, zu ihm gekommen. Von diesem habe er erfahren, daß sich hier eine ordentliche Wohnung befinde. Sein College sei krank, und so habe er sich von Harton herführen lassen, um Sennor Uhlmann zu bitten, den Collegen für diese Nacht bei sich aufzunehmen.
   Ob dies klug oder albern ausgedacht sei, das zu beurtheilen, nahm ich mir nicht die Zeit. Ich trat aus meinem Verstecke hervor. Bei meinem Anblicke fuhr Gibson empor. Er starrte mich mit dem Ausdrucke des größten Entsetzens an.
   ›Sind die Tschimarra auch krank, welche hinter Euch kommen, Master Gibson?‹ fragte ich ihn. ›William Ohlert wird nicht nur hier bleiben, sondern mit mir gehen. Und Euch nehme ich auch mit.‹
   Ohlert saß wie gewöhnlich ganz theilnahmslos da. Gibson aber faßte sich schnell.
   ›Schurke!‹ schrie er mich an. »Verfolgst du ehrliche Leute auch hierher! Ich will – – –‹
   ›Schweig‹, Mensch!« unterbrach ich ihn. ›Du bist mein Gefangener!‹
   ›Noch nicht!‹ entgegnete er wütend. ›Nimm zunächst das!‹
Er hatte sein Gewehr in der Hand und holte zum Kolbenhiebe aus. Ich fiel ihm in den Arm. Er erhielt dadurch eine halbe Wendung; der Kolben sauste nieder und traf den Kopf Ohlert’s, welch letzterer sofort zusammenbrach. Im nächsten Augenblicke drängten sich einige Arbeiter von hinten in das Zelt herein. Sie richteten ihre Gewehre auf Gibson, den ich noch gefaßt hielt.

   ›Nicht schießen!‹ rief ich, da ich ihn ja lebendig haben wollte. Aber es war zu spät. Ein Krach und er stürzte aus meinen Armen, durch den Kopf geschossen, tot zu Boden.«[20]

Karl May wurde zu sechs Wochen Haft verurteilt (er war inhaftiert vom 8. September bis zum 20. Oktober 1862), weil er Weihnachten 1861 seinem Zimmergenossen eine Uhr nicht wiedergegeben hatte. Er schrieb später darüber: »Die … Begebenheit hatte wie ein Schlag auf mich gewirkt, wie ein Schlag über den Kopf, unter dessen Wucht man in sich selbst zusammenbricht. Und ich brach zusammen! Ich stand zwar wieder auf, doch nur äußerlich; innerlich blieb ich in dumpfer Betäubung liegen; wochenlang, ja monatelang.«[21]

Nachdem William Ohlert den Schlag auf seinen Kopf erhielt, »lebte [er] zwar, aber er wollte nicht aus seiner Betäubung erwachen«.[22]

Die Geschichte von William Ohlert geht weiter:

»Und zwei Monate später saß ich bei dem guten Religioso (Ordensbruder) Benito von der Congregation EI buono Pastor in Chihuahua. Ihm, dem berühmtesten Arzte der nördlichen Provinzen, hatte ich meinen Patienten gebracht, und es war ihm gelungen, denselben vollständig herzustellen. Ich sage vollständig, denn wunderbarerweise hatte sich mit der leiblichen Heilung auch das geistige Normalbefinden eingestellt. Es war, als sei mit dem Kolbenhiebe die unglückselige Monomanie, ein wahnsinniger Dichter zu sein, erschlagen worden. Er war munter und wohlauf, sogar zuweilen lustig, und sehnte sich nach seinem Vater.«[23]

Wir wissen aus Karl Mays Autobiografie, dass die Person, die solch eine wichtige Rolle dabei spielte, May zu helfen, sein geistiges Gleichgewicht zurückzugewinnen, der katholische Katechet Johannes Kochta des Zuchthaus Waldheim war. May beschrieb ihn wie folgt: »Er war nur Lehrer, ohne akademischen Hintergrund, aber ein Ehrenmann in jeder Beziehung, human wie selten Einer …«[24]

Ohlert erlitt eine wahre Amnesie[25]: »… man [musste] gestehen, daß ein wahres Wunder geschehen sei. Ohlert wollte das Wort »Dichter« nicht mehr hören. Er konnte sich an jede Stunde seines Lebens erinnern; die Zeit aber von seiner Flucht mit Gibson bis zu seinem endlichen Erwachen in der Bonanza bildete ein vollständig leeres Blatt in seiner Erinnerung.«[26]

Das endgültige Ende der Geschichte:

»Da klopfte der Famulus an, öffnete und schob einen Herrn herein, bei dessen Anblick William einen Freudenschrei ausstieß. Welchen Schmerz und welche Sorgen er dem Vater bereitet hatte, wußte er eigentlich nur durch mich. Er warf sich weinend in seine Arme. Wir Andern aber gingen still hinaus. Später gab es Zeit, uns auszusprechen und alles zu erzählen. Vater und Sohn saßen Hand in Hand dabei.«[27]

Als Karl May am 2. Mai 1874 aus dem Zuchthaus Waldheim entlassen wurde, war es sein Vater, der zu ihm kam: Vater kam mir entgegen. Es fiel ihm auch dieses Mal nicht ein, mir Vorwürfe zu machen.[28]

Das Gedicht ›Die fürchterlichste Nacht spielt eine wichtige Rolle in der Geschichte:

›Die fürchterlichste Nacht‹

Kennst du die Nacht, die auf die Erde sinkt
Bei hohlem Wind und scheuem Regenfall,
Die Nacht, in der kein Stern am Himmel blinkt,
Kein Aug durchdringt des Nebels dichten Wall?
So finster diese Nacht, sie hat doch einen Morgen
O lege Dich zur Ruhe und sei ohne Sorgen!

Kennst Du die Nacht, die auf das Leben sinkt,
Wenn dich der Tod aufs letzte Lager streckt
Und nah der Ruf der Ewigkeit erklingt,
Daß dir der Puls in allen Adern schreckt?
So finster diese Nacht, sie hat doch einen Morgen
O lege dich zur Ruhe und sei ohne Sorgen!

Kennst Du die Nacht, die auf den Geist dir sinkt,
Daß er vergebens um Erlösung schreit,
Die schlangengleich sich ums Gedächniß schlingt
Und tausend Teufel ins Gehirn dir speit?
O sei vor ihr ja stets in wachen Sorgen,
Denn diese Nacht allein hat keinen Morgen!
[29]
 

Kennst Du die Nacht

 
Das Gedicht Die fürchterlichste Nacht ist eines der frühesten Gedichte von Karl May. Es könnte im Spätherbst 1863 geschrieben worden sein.
[30] Die Originalhandschrift hat keinen Titel und unterscheidet sich von der veröffentlichten Version in der dritten Zeile der dritten Strophe. Statt wie im Original ums Gedächtniß heißt es in der gedruckten Version um die Seele.

Die frühere Version zeigt ein Hauptsymptom – Amnesie, Gedächtnisschwund. Dies war wirklich 1863 eine der Hauptstörungen, unter denen Karl May litt.[31] Das andere Symptom waren Halluzinationen [32], die er ebenfalls poetisch beschrieb: Und tausend Teufel ins Gehirn dir speit.


Die Monomanie

  
Die Diagnose, die Karl May zu William Ohlerts Geisteszustand stellte, war ›Monomanie‹.
[33] Karl May gab auch an, dass William »vollständig Herr seiner geistigen Thätikeiten ist«.[34]

Es ist wichtig, festzuhalten, wie Karl May seinen eigenen geistigen Zustand von 1864 beschrieb: »Ich war seelenkrank, aber nicht geisteskrank. Ich besaß die Fähigkeit zu jedem logischen Schlusse, zur Lösung jeder mathematischen Aufgabe.«[35]

Monomanie ist ein Begriff, der nicht mehr verwendet wird. Er diente dazu, um eine Psychose zu beschreiben, die sich dadurch auszeichnet, dass sich alle Gedanken auf eine Idee oder Gruppen von Ideen beschränken, und durch einen unmäßigen oder zwanghaften Eifer oder Interesse an einem einzigen Ding, einer Idee oder einem Thema, oder deren Vorliebe; eine Geistesstörung, die besonders in ihrer Ausdrucksform auf eine Idee oder einen Bereich des Denkens beschränkt ist. Die alten psychiatrischen Lehrbücher klassifizierten zum Beispiel Pyromanie, Kleptomanie und einige impulsive sexuelle Abweichungen als Monomanie.[36][37]

Was war dann die von Karl May diagnostizierte Monomanie?

Von den vier Hauptpsychosen – Schizophrenie, Paranoia, Depression und das bipolare Syndrom sollte im Falle von William Ohlert Schizophrenie in Betracht gezogen werden. Auch eine akute und vorübergehende psychotische Störung kann nicht ausgeschlossen werden.

William Ohlert zeigte Anzeichen einer perzeptiven Abnormität oder Wahrnehmungsstörung, die eine mögliche psychotische Krankheit anzeigt. Seine Erscheinung, am Anfang sauber und ordentlich, verschlechtert sich während der Reise. Sein Benehmen, zuerst Zurückhaltung, wird zu geistiger Zurückgebliebenheit. Das Gespräch, nach der anfänglichen Flut von Gedanken während der Diskussion mit dem Schmied, wird flach oder hört ganz auf zu existieren. Einfluss und Stimmung verwandeln sich in Depression. Er schien für sich oder andere Leute nicht gefährlich zu sein. Er hatte keinen Einblick in seinen Zustand und konnte die Situation nicht beurteilen.

Schizophrene Symptome tauchen normalerweise im Alter von 20 Jahren oder Anfang 30 auf. Die Symptome können stark variieren. Erregung und Verzweiflung, ein katatonischer Zustand, einer Trance ähnlich, ein unveränderlicher, teilnahmsloser Zustand sind ziemlich verbreitet. Die Patienten sind realitätsfern oder außerstande, zu unterscheiden, was davon real, was unwirklich ist. Sie halluzinieren und leiden oft an Wahnvorstellungen. Es kommt zu Denkstörungen: Rede, Aufmerksamkeit, Benehmen und Gedanken werden unzusammenhängend, ohne logische Reihenfolge. Schizophrenie verursacht eine langsam zunehmende Verschlechterung der Fähigkeit, im Beruf wie im zwischenmenschlichen Bereich zu ›funktionieren.

Wenn Karl May an Schizophrenie gelitten hätte, wäre er nicht in der Lage gewesen, seine Bücher zu schreiben, wie er es tat. Seine Persönlichkeit wäre zerstört worden.

Akute und vorübergehende psychotische Störungen sind in ihrer Erscheinung akuten Episoden der Schizophrenie ähnlich. Halluzinationen, Wahnvorstellungen und andere Symptome der Schizophrenie sind normalerweise am auffälligsten, und es kann Stimmungsschwankungen geben. Es gibt einen akuten Beginn von Symptomen, und der Verlauf der Krankheit ist kurz. Wenn die Symptome länger als einen Monat anhalten, sollte die Diagnose zu etwas Passenderem als Schizophrenie oder Wahrnehmungsstörungen geändert werden. Die Genesung ist normalerweise innerhalb von zwei oder drei Monaten, oft innerhalb von einigen Tagen oder Wochen abgeschlossen.

Ohlert konnte nicht von Gibson/Gavilano hypnotisiert werden, weil er begann, sich mit dem verrückten Dichter aus seinem Theaterstück zu identifizieren, bevor er ihn traf.

Es gibt Ähnlichkeiten zwischen dem William Ohlert der Geschichte und dem Verlauf der Ereignisse im Leben von Karl May. Wir können deshalb annehmen, dass Karl May in William Ohlert autobiografische Elemente von sich selbst beschrieb.

Die Diagnose einer Fugue, Dissoziative Amnesie, Benommenheit, Trance und Identitätsstörung konnte bei William Ohlert gestellt werden.

Es gibt eine Szene in der Ohlert-Geschichte, in der er auf Old Shatterhand antwortet, der ihm das Gedicht vorliest. Dies erinnert an das Erwachen aus der Dissoziativen Benommenheit.[38][39] In Ohlerts Fall wurde der Vorgang abgekürzt und kehrte durch die brutale Einmischung des Komantschen-Häuptlings zurück.

Wenn wir William Ohlert in einem breiteren Kontext von der ›Person Karl Mays betrachten, dann können wir erkennen, dass May in den Elementen der Geschichte seinen eigenen geistigen Zustand beschrieben hat.

Das Gedicht ›Die fürchterlichste Nacht‹ von Karl May, komponiert nicht lange, bevor die Geschichte von ›Der Scout‹ geschrieben wurde, spricht von Amnesie und Halluzinationen. Die Handschrift selbst weist auf Mays gestörten Seelenzustand hin. Die Art, wie William Ohlert sein Zuhause verließ, ist das, was wir heutzutage als die Fugue kennen – plötzliches, unerwartetes Weggehen von Zuhause oder von der Arbeitsstelle, verbunden mit der Unfähigkeit, sich an etwas oder alles aus der eigenen Vergangenheit zu erinnern. Karl May beschrieb eine Fugue [dissoziative Flucht] in seiner Autobiografie.William Ohlert tat dies in einem Zustand veränderten Bewusstseins – als eine andere Persönlichkeit – davon überzeugt, daß er der verrückte Dichter aus seinem Theaterstück sei. Die Tatsache, dass Karl May an Amnesie litt, die einige Ereignisse in seinem frühen Leben betrifft, wird nicht nur in seiner Biografie, sondern auch durch andere Zeugen geschildert.

Die vollständige Erholung – mit den Worten Karl Mays ein wahres Wunder[40] – von William Ohlerts Seelenzustand mit der Hilfe und Unterstützung von Pater Benito, bezieht sich auf den Aufenthalt von May in Waldheim, wo er vom 3. Mai 1870 bis zum 2. Mai 1874 inhaftiert war. Es war in Waldheim, wo May seinen Psychotherapeuten, den katholischen Gefängnisgeistlichen Johannes Kochta traf. Mays Vater kam, um ihn nach seiner Entlassung abzuholen, genau wie William Ohlerts Vater zu seinem Sohn reiste.

Was fehlt, um eine sichere Diagnose von Dissoziativer Identitätsstörung (D.I.D.) anhand der Erzählung zu machen, ist das Kindheitstrauma. Es gibt keine Erwähnung davon in der Geschichte von William Ohlert. Wir wissen, daß Karl Mays Erblindung als Kind zusammen mit den Misshandlungen durch seinen Vater das Trauma darstellte. Natürlich existierten diese Verbindung und die Diagnose von D.I.D. zu Karl Mays Zeit nicht.

Die Geschichte von William Ohlert ist ein wertvolles Stück von Karl Mays Autobiografie. Sie scheint auch zu bestätigen, dass es die Dissoziative Identitätsstörung war, unter der Karl May in den Jahren 1862 bis 1874 litt.
  

Ich danke Ralf Harder, dass er mich auf die Wichtigkeit des Gedichtes ›Die fürchterlichste Nacht‹ bzw. ›Kennst Du die Nacht?‹ von Karl May hinwies, mich auf weitere wichtige Forschungsmaterialien aufmerksam machte.[41]

 


 

Anmerkungen

  
[1] Karl May: ›Der Scout‹, in: ›Deutsche Hausschatz in Wort und Bild, Verlag Friedrich Pustet, Regensburg, 15. Jg. (1888–1889); Reprint: KMG 1997.

[2] Karl May: ›Wiinetou II, Freiburg 1893, Kapitel 1 bis 4.

[3] Karl May: ›Winnetou‹, The Seabury Press, New York 1977.

[4] Karl May: ›Der Scout, wie Anm. 1, S. 203.

[5] Ebd., S. 203.

[6] Ebd., S. 235.

[7] Ebd., S. 235.

[8] Ebd., S. 316.

[9] Ebd., S. 346.

[10] Karl May: Mein Leben und Streben, Freiburg [1910], S. 110f.

[11] Ebd., S. 150.

[12] Karl May: ›Der Scout, wie Anm. 1, S. 507.

[13] Ebd., S. 567f. u. 583.

[14] Aus den Akten des Polizeiamts Leipzig, 1865, zitiert nach Rudolf Lebius: ›Die Zeugen Karl May und Klara May, Berlin-Charlottenburg 1910, S. 10.

[15] Karl May: ›Der Scout, wie Anm. 1, S. 584.

[16] Ebd., S. 584.

[17] Ebd., S. 586.

[18] Ebd., S. 599.

[19] Ebd., S. 600.

[20] Ebd., S. 730.

[21] Karl May: ›Mein Leben und Streben, we Anm. 10, S. 109.

[22] Karl May: ›Der Scout, wie Anm. 1, S. 731.

[23] Ebd., S. 731.

[24] Karl May: ›Mein Leben und Streben, wie Anm. 10, S. 172.

[25] Retrograde Amnesie (rückläufiger Gedächtnisschwund) nach einer Kopfverletzung dauert weniger lange an und umfasst nicht eine so lange Zeitspanne.

[26] Karl May: ›Der Scout, wie Anm. 1, S. 731.

[27] Ebd., S. 731.

[28] Karl May: ›Mein Leben und Streben, wie Anm. 10, S. 178.

[29] Karl May: ›Der Scout, wie Anm. 1, S. 203.

[30] Ralf Harder: Karl-May-Biografie

[31] Vgl. Karl May: ›Mein Leben und Streben, wie Anm. 10, S. 107.

[32] Ebd., S. 112.

[33] Karl May: ›Der Scout, wie Anm. 1, S. 235.

[34] Ebd., S. 235.

[35] Karl May: ›Mein Leben und Streben, wie Anm. 10, S. 111.

[36] M. Zetkin: ›Wörterbuch der Medizin, Berlin 1956, S. 571.

[37] Kufner, K.: ›Psychiatrie II‹, Praha 1900, p.334.

[38] Brief Dissociative Stupor (BDS) is proposed as a new category into the DSM-IV (Alexander PJ, Joseph S., Das A.: ›Acta Psychiatr‹, Scand. 95(3):177-182,1997.)

[39] DSM-IV: American Psychiatric Association: ›Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders – fourth edition‹, Washington DC, 1994, USA.

[40] Karl May: ›Der Scout, wie Anm. 1, S. 731.

[41] Vgl. Claus Roxin, Einführung zu ›Der Scout, Hausschatz-Reprint der KMG 1997, S. 7ff. Ferner Christoph F. Lorenz: »Als lyrischen Dichter müssen wir uns May verbitten«? In: Jb-KMG 1982, Husum 1982, S. 138ff und Max Finke: ›Aus Karl Mays literarischem Nachlaß, in: KMJB 1920, Radebeul 1919, S. 71f.

  


  

Karl May aus medizinischer Sicht

Karl May – Forschung und Werk