Dr. William E. Thomas MD

Karl May und Rachitis

 

Nicht nur Karl Mays Sehkraft war in seiner frühen Kindheit betroffen. Seine allgemeine Gesundheit litt ebenfalls: »volle vier Jahre siechte [ich]«.[1] Nach einer Behandlung in Dresden »kehrte [er], auch im übrigen gesundend, heim«.[2] May sagt ganz eindeutig, dass auch seine allgemeine Gesundheit, abgesehen von der Sehkraft, litt. Die einzige andere Bemerkung über seinen Gesundheitszustand während seiner Kindheit machte Karl May in dem folgenden Absatz:

»Ich wurde als ein krankes, schwaches Kind geboren, welches noch im Alter von sechs Jahren auf dem Boden rutschte, ohne stehen oder laufen zu können … Ich bin dreimal blind gewesen …«[3]

Das ist natürlich dichterische Freiheit, die nichtsdestotrotz auf Karl Mays persönlicher Erfahrung basiert. Es gibt nicht mehr Anhaltspunkte, die Karl May hinterließ, außer vielleicht ein Buch, das man in seiner Bibliothek finden kann: ›Der Säugling, Seine Ernährung in gesunden und Kranken Tagen‹, veröffentlicht in Hamburg 1888.[4] Es ist leicht verständlich, dass Karl May versucht haben könnte, etwas über seine Erkrankung in der Kindheit aus einem zeitgenössischen Text zu erfahren. Wir wissen, dass er versuchte, mehr über seine geistige Verfassung, in der er sich in seiner Jugend befand, herauszufinden anhand eines Lehrbuchs der Psychiatrie, das ebenfalls in seiner Bibliothek entdeckt wurde.[5] Einige Hinweise auf Karl Mays Kinderkrankheit gaben Personen, die ihn untersuchten. Wir haben auch Fotografien von Karl May, die wir studieren können.

Von Mays Besuch in Komotau (heute die Stadt Chomutov in der Tschechischen Republik) am 13. Juli 1897 gibt es ein Dokument über seine Ankunft im Hotel Scherber:

»[Das Ehepaar betrat den Saal] … Sie war eine imposante Frauengestalt, wie man sich Wagners Walküre denken kann, doch der Anblick Karl Mays enttäuschte uns. Wir hatten uns eine Heldengestalt vorgestellt, statt deren kam ein kaum mittelgroßer Mann herein, etwas krumme Beine (vom vielen Reiten, wie Fischer erklärte), aufrechtstehende, ziemlich struppige Haare, einen goldenen Zwicker auf der Nase …«[6]

W. Raddatz erwähnt in seinem Buch[7], dass Karl May seine kleine Statur nicht mochte. Nur im Alter fühlte May sich besser, sagt er, offenbar wegen seines prachtvollen Charakterkopfes, der oft gelobt wurde. Karl May selbst gibt seine Körperhöhe in einem Artikel über sich mit 166 Zentimetern an.[8] Zwei seiner bekanntesten Figuren, Hadschi Halef Omar (Halef war ein eigenthümliches Kerlchen. Er war so klein, …[9]) und Sam Hawkens (dem kleinen Manne … zwei dürre, sichelkrumme Beine …[10]) werden beide als kleinwüchsige Personen dargestellt.

Im Dezember 1862 war Karl May als für den Wehrdienst untauglich eingestuft worden. Bisher dachte man, dass es wegen Karl Mays Sehschwäche war. Jedoch schien Mays Sehvermögen kein Problem in seinem Leben darzustellen. Vielleicht gab es einen anderen Grund, der mehr im Zusammenhang mit den Folgeschäden von Rachitis in der Kindheit steht.

Auf den Fotografien von Karl May, insbesondere jenen aus seinen jüngeren Jahren, können wir eine breite Stirn und einen ziemlich großen Kopf (Foto 1 – KM 1896) erkennen.

Karl May

Auf einem anderen Bild (Foto 2 – KM als Kara Ben Nemsi) sehen wir seine kleinwüchsige Statur und eine Andeutung von O-Beinen.

Es gibt eine Krankheit, die so weitverbreitet im 19ten Jahrhundert war, dass sie keine spezielle Aufmerksamkeit auf sich zog. Es war die Rachitis.

Die erste Beschreibung von Rachitis stammt aus dem Jahr 1645.[11] Bis der wahre Grund für Rachitis erklärt werden konnte, dauerte es noch lange Zeit. Die eigentliche Ursache – Mangel an Vitamin D – wurde schließlich 1921 bestätigt. Erst Mitte der 1930er Jahre wurde bewiesen, dass Vitamin D sowohl in der Haut aufgebaut werden als auch in Lebensmitteln vorkommen kann.

Rachitis wurde bekannt als ›die Englische Krankheit‹; das bezog sich, wie wir jetzt wissen, auf die mangelhafte Einwirkung der ultravioletten Strahlen auf dieses Land. Im Viktorianischen Zeitalter hatte die Sonne Schwierigkeiten, den Smog zu durchdringen, der die Städte während der Zeit der Industrialisierung einhüllte. Stadtbewohner und jene, die nahe der sich entwickelnden Textilindustrie lebten, waren besonders betroffen. Den Verlust des Sonnenlichts hielt man eher als falsche Ernährung für einen bedeutenden Faktor, obwohl man den Mechanismus nicht kannte. Die Krankheit war so verbreitet, dass in einer Umfrage von 1884 in Glasgow jedes untersuchte Kind einige Anzeichen der Krankheit zeigte.[12] Ein Bericht aus der mitteleuropäischen Stadt Prag von 1863 besagt, dass 31 von 100 Kindern, die an einer Polyklinik behandelt wurden, an Rachitis litten.[13]

Rachitis ist das Ergebnis eines Mangels an Vitamin D bei Kindern. Kleinkinder sind im ersten Lebensjahr anfällig für Rachitis wegen des niedrigen Vitamin-D-Gehaltes sowohl in menschlicher als auch tierischer Milch, und wenn, aus unterschiedlichen gesellschaftlichen und kulturellen Gründen, ihre Mütter sie in Kleidung einwickeln, die verhindert, dass sie der Sonne ausgesetzt werden. Rachitis beginnt etwa im dritten Lebensmonat, meistens in der zweiten Hälfte des ersten Jahres. Das Kleinkind mit Rachitis hat häufig ausreichende Kalorien bekommen und mag gut genährt erscheinen, aber es ist unruhig, gereizt und blass, mit schlaffen und formlosen Muskeln. Verdauungsstörungen mit Durchfall kommen häufig vor. Das Kleinkind neigt zu Erkrankungen der Atemwege. Es scheitert bei dem Versuch, sich im dafür üblichen Alter aufzusetzen, zu stehen, zu krabbeln und zu gehen.[14]

Die Veränderungen der Knochen sind die charakteristischsten und leicht zu erkennenden Anzeichen von Rachitis. Lange Zeit war unbekannt, wie Karl Mays Körper tatsächlich beschaffen war. Da statische Schäden an seinem Grabmal beseitigt werden mussten, bestand nach der vorübergehenden Entfernung der tonnenschweren Marmorplatte zur Gruft die wohl für lange Zeit einmalige Möglichkeit, Karl May in Augenschein zu nehmen. »Nicht auszuschließen ist […] ein vorübergehender Vitamin-D-Mangel in den ersten Lebensmonaten, der lediglich zu einer Schädeldeformation geführt hatte und keine weiteren Teile des Skeletts dauerhaft verformte«[15], so das Urteil der Ärzte Dr. Benjamin Ondruschka und Dr. Carsten Babian vom Institut für Rechtsmedizin der Universität Leipzig, die Karl Mays sterbliche Überreste im Oktober 2014 obduzierten.

Falls der Vitamin-D-Mangel nach dem sechsten Lebensmonat andauert, erscheint später das ›bossing‹ [Vorherrschaft] der vorderen und seitlichen Knochen des Schädels, und die Schließung der vorderen Fontanelle auf dem Schädel verzögert sich. Falls Rachitis sich im zweiten Lebensjahr fortsetzt, können diese Zeichen gleich oder vergrößert sein. Deformationen wie z. B. Verkrümmung des Rückgrates entwickeln sich als Ergebnis der neuen Belastung durch die Schwerkraft und die Muskeln, verursacht durch Sitzen und Krabbeln. Wenn das rachitische Kind beginnt, zu gehen, entwickeln sich Deformationen der Schäfte der Beinknochen, so dass X- oder O-Beine zu dem Krankheitsbild hinzukommen. Eine Verminderung der Körpergröße liegt an den folgenden Ursachen: Das tatsächliche Wachstum der Knochen ist verlangsamt, besonders das des Schienbeins und des Oberschenkelknochens, die um ein Viertel kürzer als jene eines normalen Kindes gleicher Größe und Alters sein können. Zweitens wegen der Verformung der Knochen der Beine, und schließlich wegen Rückgratsverkrümmungen.

Wir wissen nicht, ob Karls Mutter oder die Großmutter darauf beharrte, das Baby während seines ersten Lebensjahres in Wickeltücher gehüllt zu halten. Es ist sehr wahrscheinlich, dass später das Kind wegen der kranken Augen vom Sonnenschein ferngehalten wurde. Wegen der Form von Karl Mays Kopf können wir annehmen, dass die Fontanellen lange offen blieben, bis zu seinem vierten Lebensjahr (gewöhnlich schließen sich die Fontanellen nach 16 Monaten). Falls die Schließung der Fontanellen verzögert wird, während der Schädel sich entwickelt, wird er breiter und flacher als normal. Früher wurde das ›caput quadratum‹ [›Vierkantschädel‹] genannt, und die auffällige Form der Stirn, das ›bossing‹, wurde manchmal ›frons quadrata‹ [›Quadratstirn‹] genannt. (Fotos 1 – 3 – 4)

Karl May ist absolut genau, wenn er in seiner Autobiografie sagt:

»Daß ich kurz nach der Geburt sehr schwer erkrankte, das Augenlicht verlor und volle vier Jahre siechte, war nicht eine Folge der Vererbung, sondern der rein örtlichen Verhältnisse, der Armut, des Unverstandes und der verderblichen Medikasterei, der ich zum Opfer fiel. Sobald ich in die Hand eines tüchtigen Arztes kam, kehrte mir das Augenlicht wieder, und ich wurde ein höchst kräftiger und widerstandsfähiger Junge …«[16]

Heutzutage sind die grundlegenden vorbeugenden Maßnahmen wohlbekannt, um Rachitis zu verhindern. Wenn ein kleines Kind täglich rund einen halben Liter Kuhmilch, ein Ei und etwas Butter bekommen kann, und freien Zugang zu einem Garten hat, in dem er/sie in der Sonne herumlaufen kann, ist die Verschreibung eines Vitamin-D-Zusatzes wohl nicht nötig für seine zukünftige Gesundheit. Vitamin D kommt in Lebertran, Eigelb und Milch vor. Butter, Eier und fetter Fisch wie z. B. Hering, Makrele und Lachs enthalten Vitamin D. Vitamin D wird in der Haut auch unter Einwirkung der Sonne hergestellt. Aus dieser einfachen Regel können wir folgern, dass es nicht so im Fall des Babys Karl war. Es gab wenig Milch, und der kleine Karl wurde vom Sonnenschein wegen seiner wunden Augen ferngehalten. Rachitis, eine Mangelkrankheit durch das Fehlen von Vitamin D (und, wie wir wissen, entbehrte Karl auch Vitamin A mit der Folge von beginnender Xerophthalmie), war das unglückselige Ergebnis.

Seit dem 18. Jahrhundert ist es bekannt, dass Lebertran gegen Rachitis hilft. Kinder, die Dorschleberöl nicht vertragen konnten, bekamen Heilbuttleberöl verordnet. Das wäre die richtige Behandlung für den kleinen Karl gewesen, da sein Gehalt an Vitamin A und D drei bis viermal so hoch ist als von Dorschleberöl.

Nach vier Jahren solch mangelhafter Diät und Mangels an Sonnenschein, sahen die Professoren Grenser und Haase in Dresden den kleinen Jungen. Was diese Herren taten, war, dass sie mit der Mutter sprachen und Dorsch- oder Heilbuttleberöl verschrieben. Das Ergebnis war eine sichtbare Verbesserung der Gesundheit des Jungen. Schwere Rachitis kann zum Stillstand gebracht werden, aber die Deformationen der Knochen sind bleibend. Die Schwere von Rachitis hängt von ihrer Dauer und dem Ausmaß der Mangelernährung ab. Falls das Kind O-Beine entwickelt hat, hervortretende Knochenhöcker entlang der Rippen (rachitischer Rosenkranz), eine vorherrschende Stirn und andere Deformationen der Knochen, werden sie zu bleibenden Schäden. Bei Karl May kann laut Obduktion lediglich eine milde Form von Rachitis vorgelegen haben, weil sie offenkundig rechtzeitig behandelt wurde.

Die Belastbarkeit und Ausdauer von Karl May als Person muss bewundert werden. Gegen alle Widerstände in seinem Leben, die ihm zum Nachteil gereichten, wurde Karl May ein außergewöhnlich kreativer Schriftsteller. Heute sind sowohl Rachitis, eine Krankheit, die die Knochen verformt und das Ergebnis von zu wenig Vitamin D in der Ernährung oder einem Mangel an Sonne ist, als auch Xerophthalmie, ein Mangel an Vitamin A, behandelbare Krankheiten, die in den Industrieländern verschwunden sind.

Alles oben gesagte ist in der Karikatur von Karl May sehr gut ausgedrückt:

 
 

Anmerkungen

 

[1] Karl May: ›Mein Leben und Streben‹, Freiburg [1910]. Reprint: Hildesheim-New York 1997, S. 16.

[2] Ebd., S. 20.

[3] Karl May: ›Old Surehand‹, Band 1, Freiburg 1894, S. 411f.

[4] Vgl. Ralf Harder: Karl May auf amourösen Pfaden?

[5] Dr. W. Griesinger: ›Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten‹, Braunschweig 1871.

[6] Volker Griese: ›Karl May – Stationen eines Lebens – Eine Chronologie seiner Reisen‹, Sonderheft der Karl-May-Gesellschaft Nr. 104/1995; Eintragung für den 13. Juli 1897.

[7] Werner Raddatz: ›Das abenteuerliche Leben Karl Mays‹, Sigbert Mohn Verlag, Deutschland 1965, S. 69 – 70.

[8] Karl May: ›Freuden und Leiden eines Vielgelesenen‹, Deutscher Hausschatz Nr. 2, (Okt. 1896 – Okt. 1897; S. 312).

[9] Karl May: ›In the desert‹ (Durch die Wüste), The Seabury Press, New York 1977, S. 1.

[10] Karl May: ›Winnetou‹, The Seabury Press, New York 1977, S. 1.

[11] Francis Glisson: ›A Treatise of the Rickets, Being a Diseas Common To Children‹, London 1651.

[12] J. Leavesley: ›Shedding some light on rickets‹, ›Australian Doctor‹ vom 6. November 1998, S.80.

[13] J. Thomayer: ›Pathologie a Therapie Nemoci Vnitrnich‹, Nakl. Bursik und Kohout, Prag 1897, S. 374.

[14] ›Davidson’s Principles and Practice of Medicine‹, Churchill Livingstone, London 1987, S. 64–66.

[15] Vgl. Dr. Benjamin Ondruschka und Dr. Carsten Babian: ›In Karl Mays Gruft – Rechtsmedizinische Analysen und Gedanken‹. In: ›Der Beobachter an der Elbe‹, Nr. 27, Radebeul 2016, S. 11.

[16] Karl May: ›Mein Leben und Streben‹, wie Anm. 1, S. 16.

  


  

Karl May aus medizinischer Sicht

Karl May – Forschung und Werk