Claus Roxin
 

Die Liebe des Ulanen‹ im Urtext

 
Der Roman Die Liebe des Ulanen [
1] ist struktuell dem so erfolgreichen Waldröschen nachgebaut. Auch hier haben wir eine über mehrere Generationen (1814–1870) sich hinziehende Geschichte, die von Familienfeindschaften, Erbschleichereien, und Personenunterschiebungen in Gang gehalten und durch kriegerische Staatsaktionen (hier: Napoleons Waterloo und den deutsch-französischen Krieg 1870/71) wirkungsvoll untermalt wird. Auch hier scheinen die Mächte des Bösen im mittleren Abschnitt der langen Romanstrecke auf der ganzen Linie die Oberhand zu behalten; so wie Sternau und seine Freunde 16 Jahre lang auf eine ferne Insel verbannt werden, muss Gebhardt von Königsau 16 lange Jahre in den unterirdischen Gewölben des Schlosses Ortry schmachten. Hier wie dort bringt die junge Generation den nun durch keine Rückschläge mehr gefährdeten Umschwung. So wie Sternau und Kurt Helmers Vorformungen der Shatterhand-Figur sind, stellt Richardt von Königsau, der sich vom unscheinbaren Lehrer mit seinem scheinbaren Buckel (der Buckel als Symbol für soziale Behinderung!) in den strahlenden Helden und Beherrscher des Geschehens verwandelt, das frühe Ich-Ideal Mays in großer Reinheit dar; sogar die Namen (Stern-Au und Königs-Au) entsprechen einander. [2] Auch spielt in beiden Romanen die Eugéne Sue nachempfundene Pariser Unterwelt eine bemerkenswerte Rolle. Der naive Leser freilich wird kaum bemerken, dass die Anlage der Ulanen-Geschichte weithin eine Kopie des beim Waldröschen bewährten Erfolgsmusters darstellt; denn Mays überragende erzählerische Begabung liegt vor allem in der Fähigkeit zur virtuosen Variation ähnlicher Grundmotive.

Die Komposition des Ulanen-Romans ist wesentlich straffer als die des Waldröschens. Der Erzählfluss hat weniger tote Strecken. Die Dialoge sind überwiegend frisch und gelungen, selbst einige Liebesdialoge, die sonst nicht immer Mays Stärke sind. Die Schauerrequisiten des Kolportagerepertoires (wie Gift und Wahnsinn) werden erheblich zurückhaltender verwendet. Ein erzählerischer Fortschritt ist also unverkennbar. Wenn trotzdem der Publikumserfolg des Ulanen hinter dem seines Vorgängers wesentlich zurückbleibt, so liegt das wohl vor allem an der bei aller Abenteuerlichkeit sehr viel größeren Gedämpftheit des Erzähltones und in der vergleichsweise zivilisierten Szenerie. Das Waldröschen hat Partien von so hanebüchender Bizarrerie, von so aberwitzig-greller Übersteigerung, von so heidischer Wildheit (man denke etwa an das Blutbad in Fort Guadeloupe!), dass seine »Triebkraft … streckenweise noch heutige Leser erfassen kann«. [3] Die völlig von aller Wirklichkeit gelöste Imagination gewinnt in den exotischen Teilen des Waldröschen gelegentlich eine die Klischees der Kolportage sprengende surrealistische Eigenkraft, die den Leser mittreißt in den Freiraum des Abenteuers [4]; die für den Leser weit besser kontrollierbare Frankreich-Kulisse des Ulanen wirkt demgegenüber eher künstlich und matt. Bei der Radebeuler (bzw. Bamberger) Bearbeitung kommt noch hinzu, dass man um des chronologischen Ablaufs willen die schwächeren Teile an den Anfang gestellt hat. Die eigentliche Inspirationsquelle des Ulanen-Romans ist aber offensichtlich das Schloß Ortry mit seinen Tapetentüren, geheimen Gängen und unterirdischen Verliesen. [5] Hier ist May mit spürbarer innererer Beteiligung am Werke, so daß alle Ortry-Geschehnisse merkliche Faszinationskraft ausstrahlen. Dementsprechend beginnt im Original der Roman auch mit der Ankunft des Richard von Königsau (alias Doktor Müller) in Ortry, und der Leser sieht sich sogleich in fesselnde Geheimnisse verstrickt, während die zeitlich früher liegenden Ereignisse von 1814 und die Afrika-Episoden auf dem Wege der Rückblende nachgeholt werden. Diese Partien, die ja nur als ›Lückenfüller‹ dienen, sind flüchtiger gearbeitet und erzählerisch blasser; es fragt sich deshalb, ob es weise war, sie nur um des einlinigen Ablaufs willen an den Anfang zu stellen.

Was den ideologischen Gehalt des Romans betrifft, so schneidet May weit besser ab, als es der vorherrschenden Meinung über seine Kolportagewerke entspricht. Natürlich sieht der Roman die deutsch-französischen Auseinandersetzungen durch die nationale Brille. Ohne diese Voraussetzung wäre ein Kolportageroman zu jener Zeit wohl auch nicht verkäuflich gewesen. Die ›kriegerische‹ Stimmung, die nun einmal herrschen muss, wird durch die bei May beliebten knasterbärtigen Haudegen à la Blücher (auch der alte Hugo von Königsau wird auf diesen Typ gebracht) teils ins Martialische, teils ins Gemütliche gewendet und durch leise karrikierende Töne verfremdet. Einer Verherrlichung des Krieges jedoch huldigt der Ulanen-Roman keineswegs. »Hoffen wir nicht, daß sich jene Zeit des Blutvergießens wiederhole«, sagt Margot von Königsau, und »Ich stimme Dir bei« [6], antwortet Hugo. »… Gott möge uns in Gnaden bewahren, daß das Morden nicht auch in diese Gegend komme« [7], äußert der Graf von Latereau über die Kriegsereignisse des Jahres 1870 / 71; das erinnert an eine Stelle im Waldröschen [8], wo der Soldatenberuf als »Mordhandwerk« bezeichnet wird. »… Der Krieg ist auf alle Fälle ein Unglück. Besser wäre es, wenn er unterbleiben könnte« [9], stellt der alte General Kunz von Goldberg fest, und er schneidet mit dieser Meinung gegenüber dem greisen Hugo von Königsau, der den Gegenstandpunkt vertritt, durchaus besser ab. Auch sonst dringen (mehr als im Waldröschen) in Mays Kriegsroman mildere Töne ein, die auf Mays spätere Liebesethik vorausweisen: »Es kann jeder Mensch ein Engel sein, wenn er dem Gebote Gottes folgt, welches Liebe und Erbarmung predigt. …« [10], erklärt Nanon ihrem Fritz Schneeberg. Selbst die Erlösungsmystik des alten May findet sich stellenweise vorgeformt. Es klingt recht eigenartig, wenn man Hugo von Königsau mitten in Not und Gefahr vom Sterben sprechen hört als vom »… Beginn jenes unendlichen Glückes, welches das entfliehende Leben uns empfinden läßt. Es ist, als habe man Schwingen, welche Einen in eine Unendlichkeit von seliger Last und Wonne tragen. So fliegt man fort und immer weiter, mit den entschwindenden Lebensgeistern, bis der Körper zurückbleibt, starr, todt, verlassen von der Seele, welche den kühnen Flug unternommen hat hinein in die Ewigkeit.« [11]

Doch vom nationalen Hass hält sich der Roman frei. Zwar wird die Partei der Schurken von Franzosen repräsentiert; aber es treten doch viele sympathische Franzosen auf. Der chauvinistischen und auch als durchaus zeitgemäßen Betrachtung Frankreichs als des ›Erbfeindes‹, mit dem ein anständiger Deutscher sich nicht verbrüdern dürfe, tritt May strikt entgegen. Die Liebe »des Ulanen« gilt vorzugsweise jungen Französinnen, die sich – der damaligen Klischeevorstellung durchaus widersprechend – keineswegs als frivol und leichtfertig, sondern vielmehr als musterhafte Ehefrauen erweisen. Überhaupt wird ständig über die Grenzen der Völker hinweg geheiratet, so dass die kriegerischen Verwicklungen, die in der Realität so verhängnisvolle Folgen haben, im Roman eher zur Völkerverständigung beitragen: »… Meine Mutter ist eine geborene Pariserin; ich bin also Ihrer Nation, welche ich achte, nicht fremd …« [12], betont Gebhardt von Königsau, und bald darauf versichert er Ida von Rallion: »… Sie retten in meinem Innern die Ehre der französischen Nation, deren Kind auch ich mich nenne. …« [13] Ein preußischer Offizier also nennt sich ein Kind der französischen Nation – schon die Bearbeiter der Jahrhundertwende haben das nicht mehr drucken mögen! Auch lässt Karl May es sich nicht nehmen, am Ende des Romans ein langes Loblied auf Napoleon zu singen, und zwar »… aus Gerechtigkeitsgefühl. Bonaparte hat viel, viel gefehlt, aber er hat unendlich mehr Segen gebracht. … Ich sage Dir, daß ich ihn nicht nur achte, sondern in Vielem sogar bewundere.« [14]

In seinen sozialen Anschauungen ist Mays Ulanen-Roman nach den Maßstäben seiner Zeit überraschend fortschrittlich. Der Glanz der Grafen- und Adelstitel in seinen Kolportageromanen kann leicht darüber hinwegtäuschen, dass May sich in Wirklichkeit die Ideale des liberalen Bürgertums [15] und in einigen Punkten auch die aufbegehrende Geste der Unterdrückten zu eigen macht. [16] »Die continentale Anschauung, daß der Erzieher gesellschaftlich unter Demjenigen steht, der ihn engagirt hat, ist uns Amerikanern nicht geläufig«, belehrt Deephill den Doktor Müller und dieser antwortet: »Amerika ist zu beneiden. Es ist ein Land, welches mit den schädlichsten und lächerlichsten Vorurteilen aufgeräumt hat.« [17] Bald darauf ist von den sogenannten besseren Ständen die Rede. [18] Aber auch Besitzunterschiede lässt unser Autor nicht gelten. »Glückliches Land, wo die Kräutersammler erster und zweiter Classe fahren können und dürfen«, äußert Deephill in ironischem Hochmut zu Fritz Schneeberg, und dieser repliziert: »Das gebe ich zu. In anderen Ländern fahren flüchtige Bankdirectoren und ruinirte Oelprinzen erster Classe, Monsieur. Uerbrigens ist zwischen einem Pflanzensammler und einem Dollarsammler kein gar so großer Unterschied. Es muß eben ein jeder Mensch das Recht haben, seine eigenen Liebhabereien denjenigen anderer Leute vorzuziehen« [19] Als der alte Richemonte seiner Enkelin Marion verbieten will, die Opfer des Eisenbahnunglücks zu pflegen, weil sich das für eine Baronesse de Sainte-Marie nicht schicke, antwortet diese: »… Eine Baronesse hat dieselben Menschenpflichten wie ein jedes andere Weib!«, was diesen zu der Bemerkung veranlasst: »Das klingt ganz nach Socialdemokratie und Commune! …« und »… Du bist seit einigen Tagen ganz außerordentlich emancipiert …«, worauf sich ein weiterer Wortwechsel anschließt, aus dem die ›emanzipierte‹ Dame natürlich siegreich hervorgeht. [20] Aber auch Sally, das ›gefallene‹ Mädchen, ruft die Menschenwürde an, als man sie auf ›Rettungshäuser… und ›Magdalenenstifte‹ verweist: »Soll ich in ein solches Haus gehen, um mich dort parade führen zu lassen? Ist der Mensch ein Material, an welchem man Experimente macht? …« [21]

Es passt durchaus in das Bild, das sich aus vielen kleinen Einzelzügen aufbaut, wenn unser Autor sich schließlich zum Anwalt der französischen Revolution macht, die er als nothwendige Folge der damaligen Zustände bezeichnet: »… Die Luft war verdorben. Es lagen Miasmen und Dünste über den Reichen; es mußte ein Sturm kommen« [22] Bemerkenswert ist, dass Napoleon in diesem Zusammenhang vor allem als Kämpfer gegen den englischen Imperialismus gefeiert wird. Dessen Standpunkt wird so charakterisiert: »… Ihr seid Wilde und ich bin der Englischman. Gebt Euer Land her! Ich will es Euch zwar nicht rauben, aber ich nehme mir eine kleine englische Quadratmeile davon, mache eine kleine Mauer rundum, setze einige Kanonen darauf, und dann spielen wir ein bißchen Sechsundsechzig. Ihr dürft keine Fabriken anlegen, …, Ihr dürft keinem Anderen etwas verkaufen, denn ich allein kaufe von Euch und bezahle Euch so viel, wie mir gefällt. Und wenn Euch das nicht bequem ist, so binde ich Euch vor eine geladene Kanone und schieße Euch an's Firmament hinauf!«»… Und weil seine Zwing-Uri-Inseln über die ganze Erde verbreitet sind, so beherrscht er also den Welthandel.«»… Dem nun, heißt es dann, wollte Napoleon ein Ende machen. Man sage gegen ihn, was man wolle, aber wäre man auf seine Pläne eingegangen, so hätte England einen riesigen Strich durch die Rechnung bekommen …« [23]

Ich habe das so ausführlich zitiert, weil diese im Original noch viel längeren Darlegungen in sämtlichen späteren Ausgaben fehlen. Im Jahre 1901, als der deutsche Imperialismus in Blüte stand, waren solche Ansichten wenig opportun. Karl May schrieb in jener Zeit Et in terra pax. Er hätte – ›Engländer‹ durch ›Abendländer‹ ersetzt – die oben zitierte Passage über Anlegungen und Colonieen [24] aus seinem einzigen Kriegsroman wörtlich in sein Friedensbuch einrücken können. Ich frage: Ist das nicht interessant?

*

Die vielleicht größte Überraschung, die der Ulanen-Urtext enthält, bietet ein über drei Lieferungen laufendes, eingeschobenes Textfragment, das bereits in der Fischer-Ausgabe 1900/1901 nicht mehr abgedruckt ist. Dieser Einschub war ein Notbehelf. Denn die vorhergehende Lieferung 87 bringt als einzige der 108 Lieferungen statt eines Ulanen-Textes die Mitteilung: »Fortsetzung des Romans ›Die Liebe des Ulanen‹ erscheint in der nächsten Nummer.« [25] Was der damalige Leser nicht wusste: Mays Mutter war soeben gestorben, und wenig später erlitt sein Vater einen Schlaganfall. Die darauf folgende Lieferung Nr. 88 [26] fährt unter der Überschrift Ulane und Zouave mit einem in Deutschland spielenden Text fort, der weder mit Ulanen und Zouaven noch mit der übrigen Geschichte das geringste zu tun hat, sich über drei Lieferungen fortsetzt und dann unvermittelt abbricht. [27] May, der rasch neuen Text zu liefern hatte, griff in seiner Verlegenheit zu einem liegenden Manuskript, dessen weiterer Druck unbekümmert abgebrochen wurde, als er einige Wochen später mit der Ulanen-Geschichte fortfahren konnte. [28]

Das Fragment über die Forstwärters-Tochter, Kindsmörderin und Zuchthäuslerin Bertha Brand erweist sich bei näherer Betrachtung als äußerst aufschlussreich. In der Handlung geht es darum, dass Bertha Brand, die wegen Tötung ihres neugeborenen Kindes zwölf Jahre Freiheitsstrafe zu verbüßten hatte, nach Ablauf von sechs Jahren vorzeitig begnadigt und aus dem Zuchthaus entlassen wird. Sie war von dem Premierleutnant von Wilden verführt und verlassen worden und hatte daraufhin aus Verzweiflung das Kind getötet. Bei der Entlassung ist von Wilden aus Anlass einer Zuchthausinspektion zufällig anwesend und benimmt sich gegen seine ehemalige Gebliebte besonders abscheulich; am folgenden Tage, als Bertha von ihm einen Ring zurückverlangt, lässt er sie sogar durch die Polizei festnehmen! Von Wilden, der wegen großer Spielschulden vor dem Bankerott steht, hatte diesen Ring nebst gefälschten Wechseln an den Juden Baruch Silberglanz verkauft, um sich notdürftig über Wasser zu halten und wenigstens die Schneiderrechnung bezahlen zu können. Die endgültige Sanierung aber soll ihm die Heirat mit der sinnberückend schönen Elma von Flakehpa-Ociului, der Tochter eines vermeintlichen reichen Kaufmanns, bringen. In Wahrheit steht, was Wilden nicht weiß, auch dieser Herr vor dem Ruin, vor dem er sich gerade durch die Verheiratung seiner Tochter mit dem scheinbar begüterten Offizier bewahren will. Im Hintergrund wartet der ›Althändler und Pfandleiher‹ Silberglanz, der alles übersieht, beide Schurken in der Hand hat und beide verderben will.

Das ist ersichtlich grellste Kolportage, die von dem alten Sturm- und Drangmotiv der ›Kindsmörderin‹ über den verkrachten und schurkenhaften Offizier, der sich an der Reinheit des einfachen Mädchens vergeht, bis zum jüdischen Pfandleiher kein überliefertes Klischee auslässt. Der kurze Text wird aber fesselnd durch die Art, in der der Verfasser die abgestandenen Motive behandelt. Das beginnt mit der Schilderung des Zuchthauses zu Grollenburg, jenes ernsten Bauwerkes; dargestellt als ein Schloß aus alter, alter Zeit durch dessen Fenster der Gefangene nichts sieht als einige Quadratzoll des Himmels, der für ihn nur Gerechtigkeit, aber kein Erbarmen zu zeigen scheint. [29] Wer dächte hier nicht an Schloss Osterstein, in dem May einige Jahre verbracht hatte? Und wer erinnert sich nicht daran, dass May noch im Jahre 1907 den Scheik der Aussätzigen sprechen lässt von der Grausamkeit der menschlichen Gesetze und von der Erbarmungslosigkeit derer, die Liebe geben sollen und doch keine haben? [30] Bemerkenswert ist, dass unser Text nicht den Strafvollzug anklagt, den ja May noch in seiner Selbstbiographie lobt; auch in unserem Textfragment wird dem Zuchthausdirektor ein menschenfreundliches Herz nachgesagt. [31] Doch äußert der Autor sehr fortschrittlich Ansichten über die Kriminalität, indem er sich geneigt zeigt, die Straffälligen für nichts Anderes, als für moralisch Kranke zu halten. Das entspricht ganz der Ansicht, die May in Mein Leben und Streben bekundet: Ich will die Strenge des Gesetzes, unter der ich leide, in ein großes Mitleid mit allen denen, die gefallen sind, verkehren, in eine Liebe und Barmherzigkeit, vor der es schließlich kein »Verbrechen« mehr und keine »Verbrecher« gibt, sondern nur Kranke, Kranke, Kranke. [32] Aus dem Munde des Grollenburger Zuchthausdirektors hören wir: »Auch der Gefangene ist ein Mensch. … Nachdem er sein Vergehen abgebüßt hat, ist er vor den Augen eines jeden human Denkenden so rein und schuldlos wie zuvor. Die Strafe sühnt Alles; …« [33] Noch in den Himmelsgedanken heißt es später: Nach vollbrachter Buße ist der Sünder wenigstens ebenso rein, wie Derjenige, dessen Fehler nicht gerichtet worden sind. [34] Wie im Alter immer wieder, schiebt May auch hier der Gesellschaft – sehr zu Recht! – die Mitschuld zu: »… Wenn sie morgen früh durch das Thor hinaus in die Freiheit treten, erwartet sie ein Kampf mit der Armuth und mit dem leider so ungerechten und schädlichen Vorurtheile, welches man entlassenen Gefangenen entgegenzubringen pflegt. …« [35] Es ließen sich auch zu dieser Auffassung aus der Spätzeit Mays zahlreiche Parallelstellen anführen. Die bis in den Wortlaut hineinreichende Übereinstimmung all dieser Sentenzen scheint mir die Authentizität des Textes sicherzustellen. [36]

Der zweite Motivkomplex des Fragmentes, der besondere Aufmerksamkeit verdient, ist Mays Darstellung des Juden. Die in den Kolportageromanen Mays auftretenden Juden sind fast alle, wie auch Baruch Silberglanz, Althändler und Pfandleiher. Das entspricht der mit vorfabrizierten Typen arbeitenden Kolportagetechnik. Aber hier lieferte May eine soziologische Begründung für die Haltung seiner Juden: »… Wir durften nicht Bürger werden; wir durften kein Haus, kein Feld, kein Stückchen Landes kaufen, welches so groß ist, wie der Teller meiner Hand. Da blieb uns nur der Handel offen … ; wir hungerten, aber wir arbeiteten und sparten … Man sperrte uns in besondere Gassen, uns, den Abschaum der Gesellschaft; wir aber hatten in unseren Truhen Gold und Silber in Menge … Die Macht des Goldes erzwang uns endlich die Gleichberechtigung, und nun konnten wir den offenen Kampf beginnen. …« [37] Bald darauf wird die lange Erklärung knapp zusammengefasst: »… Unser Volk war arm und elend; wir rächen uns und werden reich. Man nahm uns Alles, was uns gehörte; jetzt holen wir es uns wieder, … Der Sclave ist ein Fürst geworden und Die, welche ihn verachteten, werden seine Sclaven sein.« [38] Wie Baruch seinen Plan, zu stürzen Die, welche stolz da oben sitzen, plötzlich und unerwartet [39], verwirklicht, wird im Text nicht mehr ausgeführt. Aber das revolutionäre Pathos der Unterdrückten, aus dem hier die gesellschaftliche Lage der Juden erklärt wird, ist eindrucksvoll genug. Mays oben zitierte Philippika gegen den Kolonialismus beruht auf sehr ähnlichen Anschauungen. May hatte also einige Einsichten mehr, als ihm von seinen Kritikern gemeinhin zugetraut werden; sie sind nur schon in den frühen Nachdrucken getilgt und nie wieder ans Tageslicht geholt worden.

Schließlich fesselt den Leser noch Elma von Flakehpa-Ociului, jenes Mädchen von einer eigenartigen, unbeschreiblichen Schönheit [40], von der schon der alte Baruch sagt: »Sie denkt, daß sie sei das schönste Mädchen der Welt; aber sie ist eine Hexe. …« [41] Ueberhaupt gab es keinen Menschen, der ihren Charakter genau kannte. Selbst ihr Vater fand Augenblicke und Situationen, in denen sie wie ein düsteres Räthsel vor ihm stand. [42] Hat nicht May seine erste Frau Emma, das schönste Mädchen der beiden Städte, später ganz ähnlich beschrieben? Die interessantesten Wesen sind mir die, deren seelische Gestalt mir rätselhaft erscheint, deren Konturen ich nicht erkennen kann oder deren Kolorit ich nicht begreife. [43] Über die Ehe äußert sich Elma so: »… Einen Mann liebt man nicht; aber gerade deshalb heiratet man ihn! …« [44] Die eigentliche Zauberkraft dieses merkwürdigen Wesens aber liegt in seinen Augen: Zeigten diese Augensterne jetzt ein ruhiges, tiefes Schwarz, so konnte im nächsten Augenblicke die leiseste Regung sie dunkelblau färben. Man hatte diese wunderbaren Augen schon hellblau, grünlich und grau gesehen; ja, es gab Herren, welche behaupteten, bemerkt zu haben, daß im Zorne oder einer anderen ungewöhnlichen Seelenbewegung die Färbung dieser Augen vom Sammetschwarz durch alle Töne bis auf ein sogar gelblich schillerndes Grün gelaufen sei. Und auf wen ihre Strahlen mit Absicht gerichtet waren, der vermochte es nicht, den Blick von ihnen zu wenden. [45] Es lag ein Magnetismus in ihnen, welcher keinen Widerstand fand. Solche Augen sind gefährlich. Sie ziehen an; sie reißen hin; sie verführen und überwältigen. Ihre Macht ist bethörend und berückend; sie kann gefährlich werden. [46] Wenn wir nun lesen, dass der Autor im Folgenden diesen Blick als »Jettatura«, als »bösen Blick« und Elma als »Jettaturia« bezeichnet, wenn der eigenartige Name »Flakehpa-Ociului« mit »Augenflamme« übersetzt und Elma sogar als »Vampyr« charakterisiert wird, die das Blut aus den Adern der Lebendigen trinke [47], so wird das den nicht mehr verwundern, der weiß, dass May im Alter Emma Pollmer ähnlich zu schildern verstand. [48] So erweist sich unser Fragment auch als biographisch ertragreich.

Zur Textsituation des Ulanen lässt sich nach alledem folgendes sagen: Die Radebeuler und Bamberger Bearbeitungen müssen nicht nur für eine wissenschaftliche Verwendung ausscheiden, sie können auch, indem sie die Geschichte rigoros auf den Handlungsablauf zusammenstreichen, dem erwachsenen Leser nicht mehr die soziologischen und biographischen Informationen vermitteln, die eine Lektüre des Riesenromans noch heute lohnend machen. Anders steht es mit dem Olms-Nachdruck [49] der Fischer-Ausgabe 1900/1901: sie bewahrt den Erzählduktus Mays und folgt dem Urtext auf weite Strecken wörtlich oder nahezu wörtlich. Insoweit hat der Leser einen ›echten May‹ vor sich. Aber auch diese Ausgabe weist, wie schon meine wenigen Beispiele zeigen, Streichungen wichtiger und für eine Interpretation des Romanwerkes unentbehrlicher Stellen (auch ganzer Absätze und Dialoge) auf; dabei sind anscheinend politisch ›bedenkliche‹ Bemerkungen mit Absicht getilgt worden. Für eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Ulanen-Roman kommt deshalb nur die Originalfassung, wie sie hier im Internet zu finden ist, in Betracht. Vor Jahren äußerte ich den Wunsch, dass der ganze Wanderer-Jahrgang einmal vollständig wieder vorgelegt werden möge. Mindestens müssten die inhaltlich relevanten Abweichungen des Urtextes vom Olms-Nachdruck 1972 zusammengestellt und der Forschung zugänglich gemacht werden. [50] Inzwischen ist Die Liebe des Ulanen als Faksimiledruck der Erstfassung im Karl-May-Verlag erschienen; dieser Originaltext wurde auch für die HISTORISCH – KRITISCHE AUSGABE von den Herausgebern Hermann Wiedenroth und Hans Wollschläger verwendet.
 


 
Anmerkungen

  
[
1] Dieser Roman befindet sich im 8. Band der Zeitschrift ›Deutscher Wanderer‹, der in 108 Lieferungen auf insgesamt 1724 großformatigen Zeitungsseiten zerfällt. Der Band enthält freilich auch noch andere Erzählungen; von Karl May Unter Würgern (Pseudonym Karl Hohenthal), Im Sonnenthau und Die verhängnisvolle Neujahrsnacht (beide: Pseudonym Ernst v. Linden).

[2] Überhaupt setzt May in der Liebe des Ulanen die Namen seiner Protagonisten in so auffallender Weise aus Chiffren für ›oben‹ und ›unten‹ zusammen, dass dies kein Zufall mehr sein kann: Königsau, Untersberg (Deephill, Bas-Montagne), Hohenthal, Goldberg, Belmonte, Richemonte.

[3] Wie Volker Klotz (Festschrift für Käte Hamburger, S. 192) von sich selbst bekennt.

[4] Man vergleiche dazu vor allem die Dissertation von Albert Klein (Die Krise des Unterhaltungsromans im 19. Jahrhundert, Bonn 1969), die ich in den Mitteilungen der Karl-May-Gesellschaft, Nr. 5, S. 20f, besprochen habe.

[5] Wie Karl May in solchen ›untraulichen Bauten‹ immer wieder seine Gefängnisse schildert, die ›Orte seines tiefsten Elendes, die ihm zu »Schauplätzen grandioser Taten werden müssen«, hat Hans Wollschläger im Jb-KMG 1970, Hamburg 1970, S. 126f u.132, erhellend beschrieben.

[6] Die Liebe des Ulanen, in: Deutscher Wanderer, Lieferung 45, S. 705.

[7] Die Liebe des Ulanen, in: Deutscher Wanderer, Lieferung 104, S. 1655.

[8] Waldröschen oder die Rächerjagd rund um die Erde, Dresden 1882–1884, Lieferung 32, S. 758.

[9] Die Liebe des Ulanen, in: Deutscher Wanderer, Lieferung 107, S. 1702.

[10] Die Liebe des Ulanen, in: Deutscher Wanderer, Lieferung 6, S. 82.

[11] Die Liebe des Ulanen, in: Deutscher Wanderer, Lieferung 23, S. 359.

[12] Die Liebe des Ulanen, in: Deutscher Wanderer, Lieferung 40, S. 631.

[13] Die Liebe des Ulanen, in: Deutscher Wanderer, Lieferung 40, S. 632.

[14] Die Liebe des Ulanen, in: Deutscher Wanderer, Lieferung 107, S.1698/99. Die Szene, in der May nach Heinrich Heine sogar den preußischen Ministerresidenten (»… Er muß also doch ein guter Deutscher gewesen sein …«; DW, S. 1701) von Zedlitz mit langen Zitaten als Verteidiger Napoleons ins Feld führt, ist schon in der Fischer-Ausgabe 1900/01 um mehr als die Hälfte gekürzt und in den späteren Bearbeitungen ganz verschwunden.

[15] Vgl. dazu die vorzüglichen Ausführungen bei Gert Ueding, Irrgarten der Kolportage, Waldröschen-Sonderheft der KMG 1972, S. 7–15 (11/12).

[16] Vgl. vor allem Heinz Stolte, Waldröschen als Weltbild, Jb-KMG 1971, S. 17ff. - Freilich muß man mit Pauschalurteilen vorsichtig sein, eine Detailanalyse des ideologischen Gehalts aller Kolportageromane steht noch aus.

[17] Die Liebe des Ulanen, in: Deutscher Wanderer, Lieferung 82, S. 1303.

[18] Die Liebe des Ulanen, in: Deutscher Wanderer, Lieferung 88, S. 1393. Diese Textstelle existiert nur in der Erstausgabe.

[19] Die Liebe des Ulanen, in: Deutscher Wanderer, Lieferung 74, S. 1176.

[20] Die Liebe des Ulanen, in: Deutscher Wanderer, Lieferung 76, S. 1207.

[21] Die Liebe des Ulanen, in: Deutscher Wanderer, Lieferung 52, S. 822.

[22] Die Liebe des Ulanen, in: Deutscher Wanderer, Lieferung 107, S. 1698.

[23] Die Liebe des Ulanen, in: Deutscher Wanderer, Lieferung 107, S. 1698/99.

[24] Die Liebe des Ulanen, in: Deutscher Wanderer, Lieferung 107, S. 1698. – Übrigens setzte May in der Tat ›Abendländer‹ an Stelle von ›Engländer‹, als er aus Et in terra pax sein Und Friede auf Erden gestaltete. Vgl. Karl Mays Textvarianten im Jb-KMG 1972/73, Hamburg 1972, S. 145.

[25] Deutscher Wanderer, Lieferung 87, S. 1377.

[26] Deutscher Wanderer, Lieferung 88, S. 1393.

[27] Deutscher Wanderer, Lieferung 91, S. 1441.

[28] Vgl. Ralf Harder: Karl May und seine Münchmeyer-Romane – Eine Analyse zu Autorschaft und Datierung, Ubstadt 1996, S. 167ff.

[29] Die Liebe des Ulanen, in: Deutscher Wanderer, Lieferung 88, S. 1398. Vgl. auch die Strafanstalt Rollenburg im verlornen Sohn, Dresden 1884–1886, S. 391, 398, 899, 965, 1441.

[30] Vgl. dazu den von der KMG veranstalteten Reprintdruck der Erzählung Bei den Aussätzigen aus dem Eichsfelder Marienkalender.

[31] Die Liebe des Ulanen, in: Deutscher Wanderer, Lieferung 88, S. 1399.

[32] Mein Leben und Streben, Freiburg [1910], S. 138.

[33] Die Liebe des Ulanen, in: Deutscher Wanderer, Lieferung 89, S. 1409.

[34] Himmelsgedanken, Freiburg 1900, S. 323.

[35] Die Liebe des Ulanen, in: Deutscher Wanderer, Lieferung 89, S. 1410.

[36] Es wurde jahrzehntelang vermutet, nicht Karl May habe das Bertha-Brand-Fragment verfasst, sondern August Walther, ein Verlagsangestellter Münchmeyers. Vgl. hierzu: Hans Wollschläger, Karl May, Reinbek 1965, S. 53.

[37] Die Liebe des Ulanen, in: Deutscher Wanderer, Lieferung 89, S. 1411.

[38] Die Liebe des Ulanen, in: Deutscher Wanderer, Lieferung 89, S. 1411f.

[39] Die Liebe des Ulanen, in: Deutscher Wanderer, Lieferung 89, S. 1415.

[40] Die Liebe des Ulanen, in: Deutscher Wanderer, Lieferung 90, S. 1427.

[41] Die Liebe des Ulanen, in: Deutscher Wanderer, Lieferung 89, S. 1415.

[42] Die Liebe des Ulanen, in: Deutscher Wanderer, Lieferung 90, S. 1427.

[43] Mein Leben und Streben, Freiburg [1910], S. 187.

[44] Die Liebe des Ulanen, in: Deutscher Wanderer, Lieferung 90, S. 1427.

[45] Man vergleiche dazu den Beginn des Waldröschen: »O, wende Deine Strahlenaugen …« (Dresden 1882–1884, S. 3). Das Gedicht hat offenbar dieselbe autobiographische Quelle. Auch Der verlorne Sohn: Einer Venus Strahlenauge (Dresden 1884–1886, S. 240).

[46] Die Liebe des Ulanen, in: Deutscher Wanderer, Lieferung 90, S. 1429.

[47] Die Liebe des Ulanen, in: Deutscher Wanderer, Lieferung 89, S. 1415. Es soll sich hier um die Sprache der ›Walachei‹ handeln; vgl. auch Der Weg zum Glück, Dresden 1886–1888, S. 758, 1085, 1310; ferner rumänisch = walachisch: ebenda, S. 1190, 1228. Man vgl. auch die verharmlosende Verwendung dieser Motive in den Bänden 4 und 5 der Gesammelten Werke.

[48] In der Selbstbiografie Mein Leben und Streben, Freiburg [1910], S. 189, ist sehr zurückhaltend nur von einem ganz eigenartigen, geheimnisvollen Augenaufschlag die Rede.

[49] Der Olms-Verlag in Hildesheim hatte 1972 Die Liebe des Ulanen wohl aus kalkulationstechnischen Gründen nicht im Urtext, aber doch in einen dem Original weitgehend angenährten Faksimiledruck der ersten Buchausgabe (1901/02) wieder vorgelegt. Das gab damals Veranlassung, dieses bis dato in der Sekundärliteratur so gut wie unbeachtet gebliebene Monumentalwerk Mayscher Fronschreiberei genauer anzusehen.

[50] Mein Artikel »›Die Liebe des Ulanen‹ im Urtext« erschien erstmals in den Mitteilungen der Karl-May-Gesellschaft, Nr. 14 (Dezember 1972), S. 23ff und Nr. 15 (März 1973), S.6ff. Die vorliegende Fassung wurde für das Internet aktualisiert. 

 


 

Karl May – Leben und Werk

Reisen zu Karl May